Freuest Du Dich guter Zeit...
Um die Wende vom 19. ins 20. Jahrhundert wird in St. Wendel eine Volkszählung "zur Feststellung des Personenstandes behufs Auffstellung der Staatssteuerliste" auf Basis des Einkommensteuergesetzes vom 24. Juni 1891 durchgeführt[1].
Der jüdische Handelsmann Abraham Reinheimer ist mit seiner kinderreichen Familie am 29. August 1899 von Wallhalben bei Pirmasens nach St. Wendel in das Haus Neumarktstraße 3 gezogen und hat dort die Firma M. Schömann übernommen.
Im Sommer 1902 macht ein benachbartes Ehepaar auf dem Speicher des Hauses eine grausige Entdeckung (was das Ehepaar dort auf dem Speicher tatsächlich gesucht hat, bleibt unbekannt). Im Polizeibericht lesen wir:
"An das Königliche Standesamt der Stadt St. Wendel. Zur weiteren Veranlassung teile ich mit, daß am 7. d. Mts. gegen 10 Uhr vormittags auf dem Speicher des Hauses des Trödlers Abraham Reinheimer zu St. Wendel die Leiche eines Kindes, in Lumpen gehüllt, von dem Tagelöhner Wenzel Fehr und dessen Ehefrau Helene geborene Schmitt, beide aus St. Wendel[1], aufgefunden worden ist. Die amtlichen Ermittlungen haben nur ergeben, daß es sich um die Leiche eines neugeborenen, ausgetragenen Kindes handelt, welche schon seit langer Zeit, mindestens ein Jahr oder noch mehr, in einem trockenen Raum gelegen ist. Nähere Angaben über das Kind, insbesondere über Geschlecht, Abstammung u.s.w., sind bis jetzt unbekannt. Der Beerdigungserlaubnisschein ist hier beigefügt."[2]
Auch die lokalen Zeitungen berichten darüber
"St. Wendel, 9. Juni (1902).
Auf dem Speicher des Schömann'schen Wohnhauses (in der Brühlstraße) fand ein Arbeiter am Samstag Vormittag unter Gehölz versteckt die Leiche eines Kindes. Dieselbe war in Kleidungsstücke eingewickelt und soll nach ärztlichem Gutachten mindestens seit einem Jahr dort gelegen haben. Die Untersuchung über den Vorgang ist im Gange."[3]
Wie diese Untersuchung ausgegangen ist, bleibt im Unklaren, weil es keine Akten mehr gibt, in denen man nachschauen könnte.
Zwischen 1901 und 1903 kauft Reinheimer in der Hospitalstraße das Haus Nummer 13. Der Umzug geschieht vermutlich Ende 1902. Hier wohnt die Familie bis in die Dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts.
Als er das Meldeformular erhält, trägt Abrahahm Reinheimer die persönlichen Daten seiner Familie ein:
Abraham Reinheimer, Handelsmann
* 08.03.1853 Wallhalben
verheiratet mit Fanny Beildeck, * 06.08.1857 Wallhalben
sowie ihre elf gemeinsamen Kinder:
Isaak * 21.10.1880 Wallhalben
Babette * 06.06.1882 Wallhalben
Frieda * 14.01.1884 Wallhalben
Alexander * 06.12.1885 Wallhalben
Emilie Sara * 23.02.1888 Wallhalben
Markus * 22.08.1890 Wallhalben
Eduard * 06.07.1892 Wallhalben
Rosalie * 12.06.1894 Wallhalben
Auguste * 23.03.1896 Wallhalben
Mathilde * 17.03.1899 Wallhalben
Lina * 19.03.1901 St. Wendel
Er gibt außerdem an, daß er einen Gesellen, drei Lehrlinge und fünf Handlungsgehilfen beschäftigt.
[1] das Ehepaar Fehr wohnt seit 13.03.1900 in der Hospitalstraße 77
[2] Stadtarchiv St. Wendel, Sterbenotizregister 1902; darin wird Bezug genommen auf die Akten der Polizei-Verwaltung der Stadt St. Wendel, Signatur I.No I. 1975, vom 9. Juni 1902 und der Staatsanwaltschaft Saarbrücken: Aktenzeichen 3 J 706/02
[3] Stadtarchiv St. Wendel, St. Wendeler Volksblatt, Nr. 66, Dienstag, 10.06.1902
In den beiden Jahrzehnten nach dem Umzug nach St. Wendel finden wir einige von Abrahams Kindern über ganz Südwestdeutschland verstreut: Babette, die älteste Tochter, ist schon während des Umzugs außer Haus, sie hät sich bis 02.03.1901 in Durlach bei Karlsruhe auf, bevor sie in das Haus in der Neumarktstraße zurückkehrt. Emilie arbeitet als Verkäuferin bis Oktober 1906 in Metz, bis 5. November 1912 in Mainz[1]. Tochter Rosalie arbeitet als Dienstmagd bis 16.09.1914 in Pirmasens und bis 22.03.1924 in Frankfurt am Main[2]. Zwischen den einzelnen Wechseln kehren die beiden jungen Frauen immer in ihr Elternhaus in der Hospitalstraße 13 zurück. Alexander, Kaufmann von Beruf, kehrt am 17. Mai 1904 aus Mannheim in das Haus seiner Eltern zurück. Markus Reinheimer wohnt im Jahre 1919 im B.D.F. in der Kaiserstraße 9 in Saarbrücken.
Dreißig Jahre später ist das Haus immer noch im Besitz der Familie Reinheimer. Artur Liell, de Owerstädter, erinnerte sich in einer Kolumne in der Wochenpost an die Familie: "On dann ware noch en da Hoschpidalstroß de Reinheimer'sch Eduard on sei digge Schweschdere."[3]
Die Eltern sind verstorben (Fanny am 02.11.1911 und Abraham am 22.01.1924), neue Hauseigentümer sind die beiden ledigen Schwestern Babette (genannt "Betti") und Frieda Reinheimer. Bei ihnen im Haus wohnen ihre beiden, ebenfalls ledigen Schwestern Auguste und Lina. Auguste betreibt seit 23.07.1927 im Erdgeschoß des Hauses eine Plissee-Brennerei[4]. Laut Owerstädter betreiben die Schwestern einen Althandel mit Fellen, Alteisen, Lumpen und Papier.
Über Lina erfahren wir in der Geschichte der Firma Franz Bruch[5]:
Bei der Festlegung des Termins der Saarabstimmung von 1935 war dem Vertragspartner Frankreich schon bekannt, wie rüde die neuen Machthaber mit den Menschen umgingen, die gegen ihre politischen Ziele waren. Vor allem der jüdische Teil der Bevölkerung konnte sich ausrechnen, was sie von ihnen zu erwarten hatten. Die französische Regierung setzte daher in dem sogenannten "Römischen Abkommen" durch, daß Deutschland sich verpflichtete, alle auswanderungswilligen Saarländer über ein Jahr nach der Abstimmung mit ihrem Hab und Gut und Geld emigrieren zu lassen. Vor allem der jüdische Teil der Bevölkerung machte von dieser Möglichkeit Gebrauch, wobei allerdings zu vermerken ist, daß sie oft unter dem Zwang der Verhältnisse und der kurzen Frist erheblich unter dem tatsächlichen Wert ihre Häuser und Firmen verkaufen mußten. Frl. Lina Reinheimer, eine Jüdin, die schon seit dem 15. 4. 1921 in der Firma Franz Bruch als Einkäuferin arbeitete, emigrierte mit anderen Mitgliedern ihrer Familie nach Holland."
[1] An- und Abmelderegister (1912 # 2047), Ordnungsamt St. Wendel
[2] An- und Abmelderegister (1914 # 3450, 1924 # 5165), Ordnungsamt St. Wendel
[3] "De Owerstädter vazählt", Herausgeber: Willi Angel, St. Wendel 1995, Seite 109
[4] Adreßbuch für den Kreis St. Wendel und Restkreis St. Wendel-Baumholder, St. Wendel, 1933, hier: Seite 51
[5] Franz-Josef Bruch, "Die Geschichte der Firma Franz Bruch", St. Wendel, 1995, Seite 66-67
Die Kaufleute Alexander Reinheimer und Ludwig Mendel führen seit 15.11.1920 in der Balduinstraße ein Geschäft für Manufakturwaren und Herrenkonfektion. Später ziehen sie in die Schloßstraße 2 um. Der Laden wird am 2. Dezember 1935 aufgegeben.[1]
[1] Mendel wohnt in der Karlstraße 14; Anzeige aus: St. Wendel, Ein Führer durch die Stadt und ihre Umgebung, von Nicolaus Obertreis, St. Wendel, 1924. Das Foto des Geschäfts stammt aus: "de Owerstädter vazeehlt", Seite 179 unten.
Alexanders Bruder Eduard ist - wie seine Schwestern - von sehr kräftiger Gestalt. Er ist mit Alice Hermine Bonnem, geboren am 26.02.1898 in Saarwellingen, verheiratet. Sie haben eine Tochter, Ilse Reinheimer, geboren am 5. Januar 1921 in St. Wendel, ein hübsches, schwarzhaariges Mädchen. Sie wohnen in der Balduinstraße 41.[1] An ihn erinnern sich heute noch viele Leute, vor allem, was die Art seines Berufes angeht: "Der hat Ziggelja geschlacht!"
Eduard Reinheimer übt das Amt des "Schechters" aus (auch "Schächter"), eine wichtige Funktion innerhalb der jüdischen Gemeinde. Ein Schechter ist ein Metzger. Das Wort kommt aus dem hebräischen "Schohet", was in der Übersetzung "Schlächter" heißt. Das Schechten ist eine kultische Handlung und wird in kleinen Gemeinden zusätzlich vom Lehrer, Rabbi, Vorsänger oder einer anderen geachteten Person der Kultusgemeinde verrichtet. Schechten kann nur, wer die religiöse Ausbildung und das entsprechende Werkzeug zum koscheren Schlachten hat[2].
Beim Schlachten eines Tieres auf koschere Art stellt sich der Schechter rittlings über das Tier (z.B. eine Ziege, natürlich keinesfalls ein Schwein), ergreift mit der linken den Kopf und zieht ihn nach oben. In der linken hält er ein langes Messer, mit dem er ihm mit einem sauberen Schnitt die Kehle durchschneidet. Dann wird das Tier so aufgehängt, daß es ausblutet. Der Grund für diese Handlungsweise ist, daß die Juden das Blut der Tiere nicht essen. Sie führen dies auf ein Wort aus dem alten Testament zurück, das sagt: "Das Blut ist die Seele, und du sollst es nicht essen"[3]. Leute aus St. Wendel, die sich heute noch an Eduard erinnern, sagen: "Jòh, der hadd die Ziggelscha geschlachd!"
Als Metzger hat Eduard sein Gewerbe auf dem Landratsamt angemeldet[4]. Er betreibt einen "Wurstverkauf (Stand)" vom 13.11.1933 bis 15.11.1935.
Der Owerstädter weiß über Eduard noch zu berichten: "Aach am Fische hott de Eduard Spaß. Mem alde Tusch es a fische, on aach Krebs fänge gang."
Im Haus Beethovenstraße 10, die damals Viktoriastraße hieß, wohnt ein Bruder Eduards, der Kaufmann Alexander Reinheimer. Er ist verheiratet mit Elfriede Grünberg, geboren am 31.07.1884 in Aschendorf. Aus der Ehe gehen zwei Söhne hervor, der Kaufmann Paul Reinheimer, geb. 29.04.1913, der 1933 im gleichen Haus wohnt, und der Friseur Erich Reinheimer, geb. 09.10.1911, der sein Friseurgeschäft bei seinen Tanten in der Hospitalstraße 13 betreibt.
Isaak Reinheimer ist Hausierer und heiratet Johanna Maier (* 02.08.1880 in Dusemond an der Mosel ). Sie haben eine Tochter namens Johannette, die am 7. April 1906 in Dusemond geboren wird. Kurz nach ihrer Geburt - am 26. Mai - zieht die Familie nach St. Wendel[5]. Am 8. August des gleichen Jahres zieht die Schülerin Klara Maier[6] aus Dusemond bei ihnen ein, vermutlich eine Nichte von Johanna.
Von all diesen Angehörigen der Familie Reinheimer aus drei Generationen überlebt nur eine einzige die Nazis. Es ist Lieselotte Levy, die Mutter von Seev Kahn.
Isaak Reinheimer wird Soldat und fällt im September 1915 in Frankreich. Das Schicksal seiner Frau und seiner Tochter ist nicht bekannt.
Die Schwestern Babette (Betty), Frieda, Lina und Auguste verlassen St. Wendel am 10. Dezember 1935 und flüchten nach Assen in Holland.
Einen Monat zuvor - am 14. November 1935 - haben Betty und Frieda, beide ledig, das Haus in der Hospitalstraße 13 an Elisabeth Schmitt geborene Pfeiffer, die Witwe des Fuhrmanns Johann Josef Schmitt (+ 16.01.1935 in St. Wendel), verkauft. Der Vertrag wird auf der Amtsstube des St. Wendeler Notars Maximilian Nikolaus Jochem ausgefertigt[7]. Das Anwesen (Flur 6 Nummer 818/64 St Wendel) besteht aus den Teilen "a. Waschküche mit Hofraum" und "b. Wohnhaus mit Hofraum und Hintergebäude", die Gesamtfläche beträgt 2,13 Ar. Der Kaufpreis wird mit 10.500 Goldmark festgesetzt[8].
[1] Es gehört dem Rentner Johann Hallauer aus der Kasinostraße. Im Erdgeschoß befindet sich die Balduin-Drogerie von Josef Fröhlich aus Dillingen, die nach seinem Tode (vor 1933) von seiner Witwe bis etwa 1938 weitergeführt wird. Ihre Nachfolger sind zwischen 1938 und 1941 die Metzgerei von Nikolaus Schuhmacher und ab 1941 Bernhard Müller, der mit seinem Milch-, Eier- und Buttergeschäft aus der Balduinstraße 48 hierher umgezogen ist.
[2] Information von Wolfgang Tennigkeit, Bexbach
[3] Information von Seev Kahn, Israel
[4] heute ist die Stadtverwaltung dafür zuständig; den Gewerbeschein habe ich auf dem Ordnungsamt eingesehen
[5] Ordnungsamt St. Wendel, Anmelderegister 1899-1907, # 1405-7/1906
[6] geboren am 15.02.1897 in Dusemond; Ordnungsamt St. Wendel, Anmelderegister 1899-1907, # 1507/1906
[7] Landesarchiv Saarbrücken, Bestand Notariat St. Wendel, Notar Jochem, 1520/1935
[8] Zusätzlich heißt es auf Seite 2 der Urkunde: "In Anrechnung auf den Kaufpreis verpflichtet sich die Käuferin zur Entlastung der Verkäufer die auf dem übertragenen Grundbesitz lastende Hypothekenforderung in Höhe von 1179,00 Gramm Feingold, mindestens jedoch 20000,00 Franken, ausmachend zur Zeit circa 2500,00 (...) Reichsmark, zu Gunsten des Kreises St. Wendel - Kreissparkasse - mit den Zinsen vom 1. Januar 1936 ab als Selbstschuldner zu bezahlen, derart, daß der Gläubiger einen unmittelbaren Anspruch an die Käuferin erwirbt, gleichviel, ob der Gläubiger die Verkäufer aus der Schuldhaft freigibt oder nicht. Der verbleibende Kaufpreisrest in Höhe von 8000,00 - achttausend - Goldmark ist ohne Zinsen zahlbar sofort nach Umschreibung im Grundbuch. Ankäuferin unterwirft sich der sofortigen Zwangsvollstreckung aus dieser Urkunde."
Die Schwestern kehren später nach Deutschland, aber nicht mehr nach St. Wendel zurück. Im Jahre 1938 werden sie auf Anordnung der deutschen Regierung nach Gurs in Frankreich verschleppt. 1942 bringt man sie nach Auschwitz, wo sie zusammen mit Hunderttausenden anderer Deutscher ermordet werden, die das Verbrechen begangen haben, Juden zu sein.
Nur von Babette und Auguste sind die genauen Todesdaten überhaupt bekannt: Auguste stirbt am 2. November 1942, Babette am 9. Februar 1943. Frieda und Lina gelten als vermißt und werden nach dem Krieg für tot erklärt. Ihr letzer bekannter Aufenthaltsort ist das Konzentrationslager Auschwitz.
Eduard Reinheimer und seine Familie wohnen bis Oktober 1940 in St. Wendel. Ihre Tochter Ilse flüchtet am 21.06.1937 wie viele andere deutsche Juden nach Assen in Holland, nicht weit von der deutschen Grenze entfernt. Doch bereits ein Jahr später, am 10. August 1938 ist sie in Pirmasens in der Schloßstraße 53 gemeldet, drei Monate später, am 3. November 1938, wohnt sie wieder bei ihren Eltern in der Balduinstraße. Während der St. Wendeler Variante der Reichskristallnacht am 10. November 1938 wird Augenzeugenberichten gemäß Eduard Reinheimer in Unterhosen vom Mob zur Synagoge in der Kelsweilerstraße gezerrt und muß mitansehen, wie das Gebäude geschändet und angezündet wird[1]. Am 12. November 1940 wird die Familie von der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) verhaftet, um "ausgewiesen" zu werden, wie dieser Vorgang in der Amtssprache beschönigend genannt wird. Tatsächlich wird die Familie in das französische Sammellager Gurs verschleppt, wo sie unter unmenschlichen Bedingungen fast zwei Jahre verbringen. Am 4.9.1942 werden sie nach Drancy gebracht und sieben Tage später nach Auschwitz. Seitdem fehlt jede Spur von ihnen.
Guido Abuys, Kurator des Center for Research on Dutch Jewry at the Hebrew University of Jerusalem, berichtet über die Ansiedlung im holländischen Assen[2]:
"Die Familie, die sie nannten (Alexander Reinheimer), konnte genau wie alle anderen Familien, die vor Ende 1938 in die Niederlande flüchteten, sich einfach in Assen ansiedeln. Wir kennen z.B. die Geschichte der Familie Heymann, die auch in St. Wendel wohnte[3]. Diese Familie flüchtete in der gleichen Zeitspanne wie die Familie Reinheimer, mietete eine Wohnung in Assen und eroeffnete dort auch ein Geschäft. Das Lager Westerbork wurde tatsächlich 1939 als Flüchtlingslager eingerichtet und war bestimmt fuer illegale Flüchtlinge, die bis dahin überall in den Niederlanden Unterkunft gefunden hatten. Die Assener Familien wurden oft erst nach Oktober 1942 nach Westerbork deportiert. Es funktionierte ab Juli 1942 als Durchgangslager. "
Alexander Reinheimer flüchtet mit seiner Frau Elfriede und Sohn Paul am 27.12.1935 nach Assen. Er stirbt am 9. Juni 1941 in Meppel in der holländischen Grafschaft Menthe, zu der auch Assen gehört[4]. Seine Familie wird dort nach der deutschen Besetzung der Niederlande vermutlich aufgegriffen und in ein Konzentrationslager verschleppt. Ihr Schicksal ist nicht bekannt.
Emilie Reinheimer ist die einzige der Reinheimer-Töchter, die heiratet. Ihr Ehemann ist der Lehrer Marcus Levy, genannt "Max", geboren am 26.5.1886 in Magdeburg. Seit dem 17.09.1913 ist er Lehrer an einer Schule in Ottweiler. Am 11. Mai 1914 wird er an eine andere Schule im Raum Köln-Mühlheim versetzt. Kurz darauf wird Emilie schwanger. Max erhält seinen Stellungsbefehl und wird im Sommer 1914 zum 81. Landwehr-Infanterie-Regiment eingezogen, das in Frankfurt am Main aufgestellt wird. Emilie bleibt in Köln-Mülheim, als ihr Ehemann in den Krieg zieht. Am 29. Januar 1915 wird in Köln-Mühlheim ihre Tochter Liesel geboren. Am 20. Februar 1915 verläßt sie Köln und zieht zu ihren Schwestern nach St. Wendel. Drei Wochen später fällt Max während einer Infantrie-Attacke und wird auf dem Friedhof von Bertrimoutier beigesetzt.
Seine Witwe wohnt mit dem drei Wochen alten Baby zunächst bei ihren Schwestern in der Hospitalstraße 13 und zieht später in eine Mietwohnung in der Kelsweilerstraße 26. Einen entsprechenden Eintrag finden wir im Adreßbuch von 1933.
[1] die Augenzeugen sind dem Verfasser bekannt, aus ihm naheliegenden Gründen werden ihre Namen nicht genannt
[2] Zentrale für die Suche nach holländischen Juden an der Hebrew-Universität von Jerusalem; Email vom 15. August 2002
[3] Der Metzger Abraham Heymann, * 11.04.1872 Gonnesweiler, wohnte mit seiner Frau Frieda Kahn, * 04.11.1874 Thaleischweiler, in der Brühlstraße 9 in St. Wendel. Dort kamen ihre beiden Kinder zur Welt: Dora * 01.01.1899 und Ernst * 02.10.1900
Den genauen Umzugstermin konnte ich nicht ermitteln. Liesel Levy, die heute Kahn heißt und in Israel lebt, erinnert sich, daß ihre Mutter mit ihr in eine andere Wohnung umzog, als sie zwischen 12 und 14 Jahre alt war, also um das Jahr 1928.
In der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts wohnte in diesem Haus die Familie von Heinrich Klein. Er und seine Frau Frieda geb. Sauer kauften das Haus während des Ersten Weltkrieges von einem Dachdecker namens Schappert, der in die Hospitalstraße umzog. Eine Tochter von Heinrich Klein ist Elfriede Räder geb. Klein, Jahrgang 1920. Sie erinnert sich sehr gut an Frau Levy und ihre Tochter Liesel, die bei ihnen im Haus im 1. Stock in Miete wohnten. Sie beschreibt Frau Levy als eine etwas füllige Frau mit blonden Haaren, die sehr zurückgezogen lebte (auch ihre Schwestern sollen eine etwas füllige Figur gehabt haben). Ihre Tochter Lieselotte, genannt "Liesel", beschreibt sie als ein sehr hübsches Mädchen mit dunkelblonden Haaren.
Liesel Kahn kann sich an eine Jugendfreundin erinnern, deren Familie "sehr, sehr reich" war. Sie besaßen einen Möbelladen und eine Schreinerei und stellten Möbel und Särge her. Es handelt sich um Elisabeth Meihack, die schräg gegenüber in Kelsweilerstraße 19 wohnte. Dort befanden sich die Bau- und Möbelschreinerei Wilhelm Meihack und der Büchsenmacher Nikolaus Meihack und deren Wohnhaus. Elisabeth Meihack, Fürsorgerin bei der Deutschen Bundesbahn, verstarb im Juni 2001 im Nachbarhaus Kelsweilerstraße 24. Ihre Eltern hatten das Haus zu Beginn des Jahrhundert von dem jüdischen Ehepaar Josef und Auguste Fuchs gekauft[1].
Emilie Levy bezieht nach dem Tod ihres Ehemannes Witwenrente. Da diese sehr knapp ist und zum Leben kaum ausreicht, nimmt sie eine Stelle im Kaufhaus Daniel in der Luisenstraße an. [2].
[1] Josef Fuchs, * 08.08.1845 in Biesenz, Kantor der jüdischen Gemeinde von St. Wendel, und Auguste Meyer, * 22.09.1847 in Deutsch-Filehne (seit 1994 Wielen Polnócny (ein Akzent auf dem "n" von Wielen, das "l" in Polnócny mit Querstrich - kann der Computer nicht darstellen) - verwaltungsmäßige Zugehörigkeit Pila (vor 1939: Deutsch Filehne, Hinterpommern, Grenzmark Posen-Westpreußen, Netzekreis). Information von Dorothee Zickwolff, Universität Leipzig, aus dem Historischen Ortschaftsverzeichnis Hinterpommern.
[2] Stadtarchiv St. Wendel, D 3 35, Seite 132
Ihre Tochter Liesel Levy heiratet am 17.07.1935 den Rechtsanwalt Rudolf Kahn, einen Sohn des St. Ingberter Seifenfabrikanten Paul Kahn und der Paula Nussbaum, geboren am 28. Juni 1905. Seine Vorfahren stammen ebenso wie die seiner Frau aus Wallhalben. Kahn hat an der Universität München studiert und am 4. März 1930 die "Universitätsabschlußprüfung als I. Prüfung für den Höheren Justiz- u. Verwaltungsdienst in München bestanden und gleichzeitig (die) Berechtigung zur Führung des Titels "Referendar" erhalten". Am 26. April 1935 legt er in München die große Staatsprüfung ab und wird zum "Assessor" ernannt. Im Bestätigungsschreiben des Leiters der Prüfungsstelle des Reichs-Justizprüfamtes in München, Ministerialrat Dr. Menkes, vom 29. April 1935 wird seine Anschrift mit "Wohnung: St. Wendel-Saar, Kelsweilerstr. 26" angegeben (der offizielle Umzug erfolgt am 3. Mai). Er beantragt daraufhin die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft beim Amtsgericht Neunkirchen und dem Landgericht Saarbrücken. Der Vorstand der Anwaltskammer erstellt am 15. Juli ein Gutachten und bittet um seine Nichtzulassung, weil er als Jude kein Arier ist. Dr. Bergmann, Präsident des Oberlandesgerichts in Köln, legt den Antrag am 20. Juli dem Reichsminister der Justiz in Berlin vor. Doch Berlin erteilt den Saarländern (und den Kölnern) eine klare Absage:
"(?) Nach der Fassung des Schriftwechsels vom 3.12.1934 (RGBl 1935 II. S. 125) genießen die Juden im Saargebiet, soferen sie daselbst am 3.12.1934 wohnten, die Behandlung und Garantien der damals mit Saarland geltenden Gesetzgebung. Nach dieser hätte der Gesuchsteller müssen zur Rechtsanwaltschaft zugelassen werden. Demgemäß besteht keine Möglichkeit, den Antrag des Kahn abzulehen. Die Auffassung des Vorstandes der Anwaltskammer ist mit den römischen Abmachungen nicht in Einklang zu bringen. Berlin, den 30. Juli 1935. Kringe"
Kahn erhält seine Zulassung als Rechtsanwalt am 16. August 1935, gefolgt von seiner Zulassung beim Saarbrücker Amtsgericht (am 26. August). Am gleichen Tag nimmt er eine Stelle bei der Anwaltskanzlei "AG u. Lh" in Saarbrücken an, was zur Folge hat, daß das Ehepaar Kahn am 10. September 1935 nach Saarbrücken umzieht.[1]
Nachdem er ein knappes Dreivierteljahr praktiziert hat, wird ihm - zusammen mit den anderen, im Saarland verbliebenen jüdischen Rechtsanwälten - der Boden unter den Füßen weggezogen. Im übertragenen Sinne. Kahn hatte seine Zulassung als Rechtsanwalt erhalten, weil - wie wir oben lasen - eine Ablehnung der Zulassung nicht "mit den römischen Abmachungen nicht in Einklang zu bringen" war. Allerdings endet das sog. "Römische Jahr", über das wir schon in Zusammenhang mit Lina Reinheimer lasen, am 1. März 1936, ein Jahr nach der Saarabstimmung. In den Monaten nach diesem Termin erfährt auch Rudolf Kahn - wie die anderen wenigen, noch im Saarland verbliebenen, nicht arischen Rechtsanwälte -, daß er in absehbarer Zukunft seine Zulassung als Rechtsanwalt wieder verlieren wird. Er reagiert betroffen - und empört:
"An den Herrn Oberlandesgerichtspräsidenten (in) Köln.
Ich gestatte mir zum dortigen Schreiben vom 25. Juni 1936 noch folgendes mitzuteilen:
ich habe der Deutschen Front im Saargebiet von Anfang an angehört, bis ich zur Examensvorbereitung nach München ging. Ich habe mich am 17.7.1936 verheiratet. Meine Frau ist am 29.1.1915 geboren, am 18.2.1915 ist ihr Vater an der Westfront gefallen. Nachdem die Mutter meiner Frau kein anderes Vermögen als ihre Kriegswitwenrente besitzt, würde es im Falle der Zurücknahme meiner Zulassung auch meiner Frau sehr schlecht gehen, da wir beide vollkommen vermögenslos sind. Mein politisches Verhalten vor und während der Abstimmung im Saargebiet war einwandfrei."
[1] diese und die folgenden Texte zu Kahns Zulassung: Bundesarchiv Berlin, R 022 /062403; auf die Quelle aufmerksam wurde ich durch Peter Wettmann-Jungblut, "Saarländische Anwälte in der NS-Zeit", in: Eckstein 10, 2003, Seiten 4ff
Natürlich verhallen seine Proteste ungehört:
"Der Reichsminister der Justiz Berlin, den 10. August 1936
An den Herrn Oberlandesgerichtspräsidenten in Köln
(?) Auf Grund des § 1 Abs. 1 des Gesetzes über die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft vom 7. April 1933 (RGBl. I. S. 188) in Verbindung mit Ziff. 1 der Verordnung zur Ergänzung der Vorschriften über die Zulassung als Rechtsanwalt im Saarland (?) nehme ich die Zulassung des Rechtsanwalts Rudolf Kahn bei dem Amtsgericht und dem Landgericht in Saarbrücken zurück, weil er nicht arischer Abstammung ist. Ich ersuche, ihm dies zu eröffnen und auch sonst das Weitere zu veranlassen und den Präsidenten der Rechtsanwaltskammer in Köln zu benachrichtigen."
Am 17.09. teilt Landgerichtspräsident Dr. Schäfer mit, daß der Rechtsanwalt Rudolf Kahn in Saarbrücken heute in der Liste der beim Landgericht zugelassenen Rechtsanwälte gelöscht worden ist.
"Lieselotte Kahn Saarbrücken, den 17. Sept. 1936
Karcherstr. 4
An das
Reichsministerium der Justiz
Berlin W8
I p 13 K 1106/15.
Ich nehme Bezug auf die Verfügung des Herrn Justizministers vom 10.09.1936, wonach die Zulassung meines Mannes, des Rechtsanwaltes Rudolf Kahn, zurückgenommen worden ist. Ich gestatte mir, Ihnen zu dieser Entschließung folgendes mitzuteilen. Ich bemerke noch, daß ich hierzu nicht von meinem Mann veranlaßtworden bin. Ich habe von ihm lediglich das Aktenzeichen angegeben bekommen.
3 Wochen nach meiner Geburt ist mein Vater im Krieg gefallen. Mein Vater war der Landwehrmann Max Levy und von Beruf Hilfslehrer. Er ist am 18. Febr. 1915 bei Lusse (Westfront) gefallen. Meine Mutter und ich haben uns von der Kriegerwitwenrente die ganzen Jahre ernährt. Meine Mutter hat nicht wieder geheiratet. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, daß man mit 68.75 M, welche bis zu meinem 18. Geburtstag durch eine Zulage für mich ergänzt worden ist, sich sehr hat quälen müssen. Trotzdem haben wir es aber niemals an einer vaterländischen Einstellung fehlen lassen. Meine Mutter gehörte schon seit dem Jahre 1923 dem Deutschen Kriegsopferverband als Mitglied an. Sie können sich bei der Ortsgruppe in St. Wendel-Saar erkundigen. Wir sind auch aus ehrlicher Einstellung heraus, mein Mann ebenso, der Deutschen Front im Saargebiet beigetreten, da man uns immer, auch von der N.S. Kriegsopferversorgung aus versichert hat, daß auf die Kriegsopfer immer Rücksicht genommen wird, auch wenn sie jüdische Kriegsopfer sind. Als wir am 17.7.1935 geheiratet haben, war mein Mann vollständig mittellos. Als kurz darauf mein Mann als Rechtsanwalt zugelassen wurde, konnten wir uns in der Hauptsache mit jüdischen Klienten eine bescheidene Existenz gründen.
Durch die Zurücknahme der Zulassung bin nun ich genau so wie mein Mann getroffen worden, so daß wir nicht wissen, was wir jetzt anfangen sollen. Nach meiner Meinung habe ich für Deutschland so viel Opfer gebracht, daß man unsere Existenz nicht hätte zu vernichten brauchen. Wenn mein Vater nicht im Krieg gefallen wäre, stände ich wahrscheinlich nicht mittellos da und hätte auch eine andere Jugend gehabt wie so viele andere auch.
Mein Mann hatte mir gesagt, daß die Zurücknahme seiner Zulassung erfolgen kann, aber nicht erfolgen muß. Ich habe immer angenommen, daß man auch hier auf mich Rücksicht nehmen würde, weil auch in anderen Fällen die Verhältnisse bei den Ehefrauen geprüft werden. Ich bitte um Mitteilung und ich kann das als Kriegerwaise verlangen, ob es gerechtfertigt ist, daß Sie mit der Existenz meines Mannes auch meine Existenz vernichten."
Die Antwort kommt kaltschnäuzig eine Woche darauf aus Berlin:
"Auch auf Ihre Eingabe vom 17.9.1936 muss es bei meiner Verfg. v. 10.9.1936 sein Bewenden haben."
Das Ehepaar Kahn zieht nach St. Ingbert um, bis es Anfang 1939 auf dringendes Anraten des Saarbrücker Arztes Dr. Pörsch im letzten Augenblick Deutschland fluchtartig verläßt. Sie retten nichts als das blanke Leben und lassen alles zurück, was ihnen lieb und teuer ist. Liesels Mutter Emilie bleibt in St. Wendel. Sie zieht am 16. September 1935 in die Schorlemerstraße 12 um, eine Woche, nachdem ihre Tochter nach Saarbrücken gezogen ist. Nach dem Krieg angestellte Ermittlungen haben ergeben, daß sie am 26. Oktober 1940 durch Beamte der Gestapo mit unbekanntem Ziel abtransportiert wird. Wie ihre Schwestern wird sie vermutlich in Auschwitz ermordet. Nach dem Krieg wird sie für tot erklärt.
Liesels Sohn Seev schreibt über seine Tanten:
"Meine Tanten gingen nach Holland, weil sie sich sonst nirgends verstecken konnten. Visa nach Palästina (Israel) waren nur schwer zu bekommen. Die Anzahl war begrenzt, ein Visum kostete etwa 2.000 Pfund, das sind heute mehr als 200.000 Dollar, zahlbar in bar. Meine Eltern kamen im Februar 1939 illegal nach Palästina und dürften nur bleiben, weil ich dort am 21. Mai 1939 geboren wurde."
Lieselotte ist heute 86 Jahre alt und erinnert sich trotz allen Leids oft an ihre alte Heimat. Am 6. September 1958 erhält sie ihre deutschen Staatsbürgerrechte zurück[1].
"Wie du sicher weißt, wurden während der Herrschaft Hitlers allen Juden ihre Bürgerrechte entzogen, entweder, weil man sie aus Deutschland vertrieb oder umbrachte. Meine Eltern erhielten ihre Bürgerrechte zurück, als Deutschland sich entschied, Gerechtigkeit walten zu lassen. Übrigens sind die einzigen Deutschen, die außer der deutschen Staatsbürgerschaft noch eine andere besitzen dürfen, jene Juden, die in Israel leben und ihre deutsche Staatsbürgerschaft zurückerhielten. Sie besitzen jetzt die deutsche und die israelische. Außerdem - da die deutsche Staatsbürgerschaft auf die Kinder und Enkel übergeht, deshalb sind meine Frau und ich ebenfalls deutsche Staatsbürger. Wir besitzen ebenfalls die deutsche und die israelische Staatsbürgerschaft. Ist doch lustig, nicht wahr?"[2]
Robert Kahn stirbt am 14. November 1974 in Israel. Deutschland hat er seit seiner Flucht nicht wiedergesehen. Als man 1982 plant, eine Gedenktafel am Giebel des Hauses in der Kelsweilerstraße, wo früher die Synagoge stand, anzubringen, sagt seine Witwe Lieselotte sofort zu, entscheidet sich aber im letzten Moment doch anders; die Beschwerlichkeiten der Reise sind ihr zuviel geworden.
Heute lebt sie in Shavei-Zion, einem Ort, der so klein ist, daß die Häuser keine Hausnummern benötigen. Ihre Erinnerungen an die ferne Vergangenheit waren für ihren Sohn Seev der Ausgangspunkt seiner Suche nach dem Grab seines Großvaters.