„Mit der Rückkehr des in den Osten abgegebenen Salonwagens ist in absehbarer Zeit nicht zu rechnen.“
Geschichten aus den Eisenbahnakten des Landesarchivs
nacherzählt von Anneliese Schumacher, Oberthal
Im Sommer 2008 begann ich mit der Erfassung von mehreren hundert Metern unsortierter, ungesicherter Akten, welche einige Zeit zuvor von der Deutschen Bahn an das Archiv abgegeben worden waren. 1000 Akten waren bereits erfaßt. Deren Inhalt jedoch ist für meine Vorstellungen so knapp beschrieben, dass ich eigentlich nichts über deren Inhalt sagen kann. Sie glauben mir nicht? Nun ja, wenn in der Rubrik „darin“ etwas von Fotos steht, müssen Sie schon in der Akte selbst nachsehen, um zu wissen, was diese darstellen.
Ich war bei der Erfassung etwas genauer. Zumindest war ich so genau, dass ein Freund bemerkte, es sei doch besser die Akten überhaupt zu erfassen, als viele unbearbeitet zu lassen.
Mir würde viel entgehen, würde ich nur den Titel der Aktendeckel vermerken. Viele melancholisch anmutende, fröhliche, witzige oder paradoxe Geschichten würden vermutlich nie wieder von jemandem gefunden und gelesen werden. Viele Dinge, wie der Rückbau eines Bahnübergangs, sind vielleicht noch für Heimatforscher aus speziell diesem Ort interessant. Findet man sich allerdings in den Akten als eines der Kinder wieder, die am Schrankenbaum geschaukelt haben, gewinnt die Akte eine ganz andere persönliche und gefühlsmäßig auch für Dritte nachvollziehbare Dimension.
Der Schrankenwärter, der wegen der vielen an der Schranke hängenden Kinder nicht mehr in der Lage war, die Schranke hoch zu kurbeln, hatte vor 60 Jahren sicher andere Gefühle. Ich bin jedoch sicher, auch er könnte heute über die Geschichte lachen. Vielleicht auch wie in jener Episode, in welcher er eine Sechsjährige namhaft machte, die allein an dem „Gehänge“ der Schranke schaukelte, wodurch der arme Mann vergeblich an der Kurbel drehte, ohne den Schrankenbaum zu bewegen.
In den ersten Nachkriegsjahren waren Kinder – auch bei Kleinblittersdorf – selten so gut genährt, dass sie in diesem zarten Alter schon so schwer waren, eine Schranke aufzuhalten. Die Hebelgesetze waren zwar auch damals nicht aufgehoben, aber dicke Stahldrähte über Umspannrollen haben auch einiges zu bieten.
Schrankenwärter mußten damals Strafe zahlen, wenn der Zug Verspätung bekam, weil die Schranke nicht rechtzeitig geschlossen war. Ich vermute, zu der Situation kam es, weil der Mitarbeiter sich die Arbeit ein wenig erleichtern wollte. „Wie das?“ fragt man sich heute im Zeitalter elektronischer Steuerungen und elektrischer Antriebe überhaupt. Nun, wenn die Schranke nicht ganz unter war, sondern sagen wir in einem gaaanz leichten, kaum sichtbaren Winkel noch nach oben zeigte, mußte unser Schrankenwärter beim erneuten Öffnen nicht so weit kurbeln. Dann war aber auch das „Andrehen“, also die ersten Umdrehungen, um so schwerer.
Umgekehrt haben die Jungs oft ebenfalls nicht bis zum Anschlag aufgedreht. Klar, können Sie sagen, müssen sie ja auch nicht. Zur Durchfahrt von Fahrzeugen oder gar der Passage von Fußgängern hat das allemal gereicht, da haben Sie recht.
Nur kam das sogenannte Läutewerk gar nicht oder nur zu kurz in Gang. Was das ist? Bevor die Schranke sich schloß, gab es früher (heute oft auch noch) immer akustische Signale, das Läuten eben. Hatte der Schrankenwärter den Balken nicht weit genug nach oben gekurbelt, gab es beim Schließen oft nur noch ein klägliches „Bing“, und die Schranke war bereits halb zu.
Übrigens: Schranken waren für die, die die Bahnstrecke queren wollten, schon immer viel zulange zu. Dies wurde mit der Modernisierung der Bahnanlagen keineswegs besser. Da kam doch tatsächlich irgendein Techniker auf den Dreh, die Schranken signalabhängig zu machen. Der hat sich halt gedacht, wenn er dafür sorgt, dass die Schranke geschlossen sein muß, bevor ein Zug darüber brettert, kann nicht mehr so viel passieren. Und so muß bis heute an fahrdienstgesteuerten Schranken zunächst der Übergang geschlossen werden, bevor das Signal auf Fahrt gehen kann.
Stehe ich in St. Wendel an der Bahnschranke Kelsweilerstraße, muß ich mir immer noch dazu in Erinnerung rufen, dass der Fahrdienstleiter (das ist der, der die Weichen stellt) nach Vorschrift zuerst die Ausfahrt freischalten muß, bevor er die Einfahrt erlaubt. Auch wenn der Zug in St. Wendel hält, dann aber weiterfährt, muss zuerst die Ausfahrt Richtung Türkismühle stehen. Dann dauert das Ganze aus Richtung Saarbrücken natürlich noch länger, macht aber Sinn, falls ein Zug mal „durchrutscht“.
Fragen Sie jetzt bitte nicht: Na und?
Steht der Ausfahrweg des Zuges nicht, kann es sein, dass der die nächsten Stunden gar nicht mehr ausfährt, weil er nämlich beim Durchrutschen – also zu schnell und zu weit fahren – die nächste Weiche zerstört hat. Oft genug gibt das auch für die Gegenrichtung Ärger, Verspätungen und Arbeit für die Bahnmeisterei.
Ich merke gerade, ich bin ja schon mitten in meinen Geschichten.
Die werden ebenso unsortiert erzählt, wie ich sie in den Akten finde bzw. gefunden habe.
In einigen Fällen nenne ich Namen und genaue Orts- und Zeitangaben. In anderen Fällen werde ich gewisse Rücksichten nehmen und aus Pietät oder anderen Gründen nur ungefähre Angaben machen.
Anneliese Schumacher, Oberthal
Butterbrotpapier
Kurz nach der Kapitulation des Deutschen Reiches versuchte man im besetzten Saarland wie überall sonst möglichst schnell wieder Strukturen aufzubauen, die auch eine Eisenbahnverwaltung möglich machten.
Sowohl die Alliierten wie auch später die Saarländische Bahn waren nicht zuletzt auf eine funktionierende Druckerei angewiesen. Die der Bahn wurde auch schon recht früh wieder mit Papier beliefert, die alten Maschinen waren offenbar funktionsfähig, oder sie wurden ersetzt.
Die angelieferten Papiere mußten auf Größe zugeschnitten werden. Dabei fallen vor allem an den Rändern kleinere Stücke ab, die in der Bahndruckerei in Containern gesammelt werden.
Dann fiel eines Tages auf, dass von diesen Papieren immer wieder Stapel fehlten. Nicht, dass man mit diesen kleinen Papierchen irgend etwas hätte anfangen können, außer vielleicht Notizblöcke herzustellen. Aber, wie es sich für eine anständige Verwaltung gehörte, der Fall wurde verfolgt.
Und tatsächlich: einer, nein zwei der Mitarbeiter hatten einige hundert dieser Blätter mitgenommen. Die Ehefrau des einen verhökerte die Papiere an eine Metzgerei, die die wenigen kleinen Fleischportionen, die sie offiziell verkaufte, darin einschlug. Der Metzger war natürlich an ständigem Nachschub interessiert, hatte aber, wie er in der späteren Verhandlung angab, keinen Schimmer, woher seine Lieferantin die Ware bezog.
Der zweite angesprochene Mitarbeiter versuchte ähnliches, war aber finanziell nicht so gewieft. Immerhin hatte er ebenfalls Papier der Saarbahn mitgenommen und versucht, es zu Geld zu machen.
Einmal in Gang gekommen, war die Ermittlungsmaschinerie nicht mehr aufzuhalten.
Dabei fiel auf, dass viele Mitarbeiter sich einzelne Blätter mit nach Hause nahmen. Am nächsten Tag hatten sie ihre Butterbrote darin eingepackt und mit zum Dienst gebracht. Wenn das Brot vertilgt war, legten sie das Papier wieder in den Container zurück.
Einer hatte für die Einschulung seines Kindes 1946/47 einige wenige Blätter mitgenommen, um ein Schreiblernheft anzufertigen. In privaten Druckereien, wo alle Mitarbeiter gelernt hatten, waren kleine Entnahmen in diesem Umfang durchaus üblich und normal. Nicht so bei der Bahn!
Alle Mitarbeiter, die, die mit dem Papier Geschäfte machten, wie die, die einen Tag später den Zettel wieder zurücklegten, mußten sich einem Gerichts- und später einem Disziplinarverfahren stellen. Und sie alle wurden hart bestraft. Die einen mit Entlassung aus dem Dienst und empfindlichen Geldstrafen, den anderen kürzte man die Dienstbezüge. So kurz nach dem Kriege, oft ausgebombt, ohne richtige Wohnung und Möbel, eine sehr harte Strafe, die viele entsprechend traf.
Monate später erbarmte sich dann ein „Großkopferter“ und schrieb dem Präsidenten der Bahn sowie dem Disziplinarausschuß. Mit dem Hinweis auf die doch geringe Schuld der Druckereimitarbeiter und mit einer Erinnerung, man brauche die Leute doch für den Wiederaufbau, bat er um Gnade für seine Untergebenen. Selbst die französische Saarverwaltung wurde vorstellig. Und siehe da, nach einem halben Jahr wurden die Bezügekürzungen zurückgenommen.
In den Personalakten der Leute blieben die Verfahren jedoch vermerkt. Vielleicht treffe ich den Fall ja wieder, wenn ich diese Akten erreiche.
Vogelschutz
An Bahndämmen wachsen oft Pflanzen, die mit ihrem Wurzelwerk die Struktur den Dammes schädigen und deshalb von den Bahnen oft massiv bekämpft wurden. Dabei war das Ausbringen von Gift ebenso häufig, wie die Methode des Abfackelns.
Anfang der 30ger Jahre des 20. Jahrhunderts verfaßte dann ein Dezernent der damaligen Reichsbahnverwaltung eine Verfügung zum Schutze der Tierwelt entlang der Bahnstrecken. Füchse und Hasen waren wohl wegen ihrer Grabungstätigkeit für ihn nicht von Interesse.
Sein einziger Augenmerk galt dem Schutz der gefiederten Freunde.
Kein Wunder bei seinem Namen: Dr. Vogel.
Stollenverfüllungen
Ende 1944/ Anfang 1945 trieben die Gemeinden Kastel und Lockweiler Luftschutzstollen unter den Bahndamm, um der Bevölkerung Fluchtmöglichkeiten zu bieten. Die Arbeiten wurden vor allem im Zuständigkeitsbereich Lockweiler ohne vorherige Rücksprache mit der Reichsbahn begonnen, da der Vorsitzende der NSDAP-Ortsgruppe und Bürgermeister dies offenbar nicht für notwendig erachtete. Nun, zwangsläufig musste die Reichsbahn die Arbeiten nachträglich genehmigen, machte aber die Auflage, dass die Stollen nach Kriegsende auf Gemeindekosten wieder aufzufüllen wären. Bereits Ende 1945 mahnte die Bahn diese Arbeiten an.
Zunächst stellten sich beide Gemeinden völlig unwissend. Nach einigen Nachfragen und der Unterstützung des Kreises ergab sich Kastel dann in sein Schicksal und bezahlte relativ schnell die Verfüllung des entsprechenden Stollens.
Lockweiler weigerte sich noch immer beharrlich mit dem Hinweis, der Stollen sei auf Initiative der Partei gebaut worden und nicht auf der der Gemeinde. Die enge Verflechtung von Partei und Gemeinderat machte das nicht einmal unwahrscheinlich aber praktisch. Da die Konten der NSDAP von den Alliierten eingezogen waren, hoffte die Gemeinde wohl, so der Zahlung zu entgehen.
Nach jahrelangem Hickhack wurde 1948 dann eine Lösung gefunden. Mit ortansässigen pensionierten Bergleuten ließ Lockweiler den Stollen angeblich verfüllen. Immerhin hatte der Hohlraum unter dem Gleis bereits zu Betriebsstörungen geführt. Mitarbeiter der Bahn wunderten sich nur darüber, dass trotz der „Verfüllung“ nichts besser wurde. Untersuchungen ergaben dann, dass nur die Eingangsbereiche der Stollen etwa einen Meter weit aufgefüllt waren. Dies wieder aufzubrechen und den verbliebenen Hohlraum von unten zu füllen, erwies sich als zu gefährlich, nicht zuletzt, da die verbauten Hölzer minderer Qualität und bereits am Verrotten waren.
Die Bahn war gezwungen, den Stollen von oben zu öffnen, ihn zu verfüllen und die Löcher dann wieder zu schließen.
Die ausführliche Darstellung des Rechtsstreits um die Kosten erspare ich Ihnen.
Ach, Sie wollen noch wissen, wer gewonnen hat?
Natürlich die Bahn.
Reich wie eine Bahnhofsmaus
Anfang August 1958 rotierte der Herr Klees, der Kassenverwalter des Bahnhofs in Oberthal: Er hatte einen Kassenfehlbetrag von 17.547 Franken festgestellt. Kassenfehlbetrag heißt soviel wie: das Geld ist zwar in den Büchern vermerkt, aber eben nicht da! Nach 48-stündiger Suche war Herr Klees keinen Schritt weitergekommen und musste seine vorgesetzte Dienststelle informieren.
Zuständig für Oberthal war der Dienstvorsteher des Bahnhofs St. Wendel, der nicht da war. Der ihn vertretende Inspektor schickte gleich zwei Prüfer los: den Leiter seiner Bahnhofskasse und einen Aufsichtsbeamten der dortigen Fahrkartenausgabe. Die beiden reisten also nach Oberthal, suchten und suchten – ohne und mit den dortigen Kassenbeamten – allein - die 17.547 Franken blieben verschwunden.
Nun wurde das Verkehrsamt von dem fehlenden Geld informiert. Dieses Amt hatte zu prüfen, wieso das Geld nicht da war und ein Erstattungsverfahren gegen den Kassenbeamten einzuleiten. Zunächst schickte das VA (Verkehrsamt) aber den zuständigen Verkehrskontrolleur, auf dass dieser erneut eine „Barprüfung“ vornehme. Der nahm zur Unterstützung wieder die schon sucherfahrenen Herren aus St. Wendel mit. Wie zu erwarten war, bestätigte sich das Soll, also der Fehlbetrag gegenüber den gebuchten Beträgen.
Solchermaßen motiviert prüfte der Verkehrskontrolleur alles, was ihm unter die Finger kam. Das Geld musste irgendwie abhanden gekommen sein (Diebstahl, Unterschlagung, Verbrennen, was auch immer).
Die diensthabenden Beamten wurden (peinlich) befragt und mehrfach „durch die Mangel gedreht“. Wirkliche Verdachtsmomente ergaben sich aber einfach nicht. Dann aber wühlte der Verkehrskontrolleur in der Kassenschublade herum und fand ganz hinten ein kleines Loch im Holz der Schublade. Mit viel Aufwand wurde die dann in der Laufschiene gesicherte Schublade entfernt. Mit der Taschenlampe leuchtete der Kontrolleur dann hinein – ganz hinten hinter der Schublade fand sich ein weiteres Loch. Dies führte in ein Mäusenest, gemütlich ausgepolstert mit Teilen von Geldscheinen.