Die Balduinstraße
Über die ältere Geschichte unserer Heimatstadt St. Wendel wissen wir eher weniger als "etwas" oder gar "viel". Aber jahrelange Beschäftigung mit diesem Thema haben Ideen entstehen lassen, wie es gewesen sein könnte. Aber genau das sollte man nicht vergessen: ohne gesicherte Beweise bleiben es eben nur Ideen. Das heißt, alles könnte auch ganz anders gewesen sein. Oder auch nur "so ähnlich".
Die älteste Straße innerhalb des ehemaligen Mauerrings der Stadt St. Wendel ist die Balduinstraße. Ihren Namen erhielt sie im 20. Jahrhundert nach dem ersten großen bekannten Förderer St. Wendels, dem Erzbischof von Trier und Kurfürsten Balduin von Luxemburg (um hier gleich mit der entstehenden Verwirrung aufzuräumen: "von Trier" gehört zu seinem Titel, weil es noch weitere Erzbischöfe gab, "von Luxemburg" ist ein Teil seines Namens). Dieser lebte im 14. Jahrhundert, und bis dahin dauert es noch ein bißchen. Chambre-chambre (Gemach, Gemach).
Vor zweitausend Jahren ist hier im Bereich der heutigen Stadt vor allen Dingen eines viel: Bäume. Von einer Besiedelung gibt es keine Spur. Wenn man sich auf den Kernstadtbereich konzentriert. Aber wenn wir noch ein paar Jahre warten und dann den Blick über den berühmten Tellerrand ein wenig nach Nordwesten heben, dann können wir in etwa einem Kilometer Entfernung einen großen Bauernhof im römischen Stil ausmachen, der dort gerade im Bereich des heutigen Vororts Alsfassen gebaut wird (dafür haben wir einen Beweis in Form eines beschrifteten Ziegels). Ein Blick in die andere Richtung über das spätere Urweiler auf den Westhang des Bosenbergs zeigt uns eine weitere Baustelle, das römische Landhaus von Urweiler.
Dann ist baumäßig aber erst mal für ein paar hundert Jahre Ruhe. Die Römer ? oder wer auch immer diese Häuser bewohnt haben mag, römische Bürger werden es allemal gewesen sein ? wachsen, vermehren sich und gedeihen, bis schließlich im fernen Rom die Lichter fast alle ausgehen und das Riesenreich unter seiner eigenen Last zusammenbricht. Die Auswirkungen erreichen schließlich auch das ferne Gallien. Ohne die Militärmacht, die dahintersteckt, brechen alle Strukturen zusammen, das Mittelalter beginnt. Über die nächsten hundert Jahre wissen wir so gut wie gar nichts, jedenfalls, was unseren Raum betrifft. Und als das siebte Jahrhundert anbricht und sich der dunkle Vorhang wieder hebt, stehen wir schon vor vollendeten Tatsachen. Plötzlich sind die Franken da, und sie sind auch schon sehr rührig gewesen. Die Villen oberhalb Urweilers und Alsfassens stehen noch teilweise, aber die einzelnen Gebäude sind nacheinander aufgegeben worden, wenn es darum ging, sie instandzuhalten. Lassen wir sie in Frieden ruhen und wenden uns der Stadt zu.
Hier ist einiges passiert. Auf dem nasenförmigen Rücken, der sich vom Bosenberg her ins Bliestal erstreckt, ist eine kleine Siedlung entstanden, ein Weiler, nicht viel mehr als ein, zwei Häuser und der obligatorische Hund (aus dem Sprichwort). Sein Herr ist ein Franke namens Baso. Und nach ihm wird der kleine Ort auch benannt: "Basonis villare" ? Weiler des Baso. Wo genau er auf dem Hügel oberhalb der Blies liegt - fragen Sie mich nur nicht. Irgendwo da oben. Ist auch egal, Hauptsache, er ist da. Und er liegt nicht alleine dort. Am Fuße des Hügels, dort, wo von Norden ein kleiner Bach ankommt, dem man später den Namen "Todtbach" geben wird, liegt ein weiterer kleiner Weiler, über dessen Namensgeber bisher noch niemand in Spekulationen ergangen ist: Kelsweiler. Er spielt in späterer Zeit eine wichtige Rolle, weil dort die beiden Straßen zusammenkommen, die die Menschen von Norden, Süden und Westen nach St. Wendel bringen: die Brühl- und die Kelsweilerstraße. Genau im Westen, aber auf der anderen Seite der Blies, liegt Niederweiler, dessen Name nicht auf einem Eigennamen beruht, sondern schlicht auf seiner Lage. Es ist das Gegenstück zum nördlich, also "oberhalb", von Bosenweiler gelegenen Urweiler ("Ur" = "Ober").
Was haben wir sonst noch hier? Unten im Tal zwischen Hügel und Blies liegt vermutlich eine kleine Burg auf einem Hügelchen, vom Wasser des Todbachs und/oder der Blies umflossen. Dieser Burgtyp wird "Motte" genannt. Bitte verwechseln Sie sie nicht mit der späteren Burg, die die beiden Namen "Schloßstraße" und "Schloßplatz" bestimmen wird. Diese wird woanders liegen, nämlich am Hang zwischen Schloßstraße, Schloßplatz, Mott, Im Graben und Luisenstraße (die Arbeiten hinter dem Colbushaus liegen voll in diesem Bereich).
Dieses siebte Jahrhundert ist sehr wichtig für das spätere St. Wendel. Es legt zunächst den Grundstein dafür, daß wir heute nicht mehr Bosenweiler, sondern St. Wendel sagen. Und es nennt zum ersten Mal eine Obrigkeit, zu der wir die nächsten paar hundert Jahre gehören werden. Der erste Grundstein ist der heilige Wendalinus. Ob er gelebt hat oder nicht, soll hier nicht erörtert werden. Tatsache ist, daß er hier verehrt wird. Ursprünglich wohl eher auf lokaler Ebene, später auch über die Grenzen der Stadt hinaus. Sein Grab liegt oben auf dem kleinen Hügel in Bosenweiler. Wie mag es ausgesehen haben? Eine Kapelle, vielleicht eine Kirche. Sie liegt - sofern sie der Grund war, hier eine Siedlung zu errichten - wohl im Zentrum, so wie heute die Basilika. Ist die Verehrung aber erst später dazugekommen, dann kann eine Randlage wie etwa im Bereich der Magdalenenkapelle durchaus im Bereich des Möglichen liegen. In späterer Zeit aber ? und zwar auf jeden Fall vor dem 14. Jahrhundert, genauer: vor dem Bau der zweiten, eben beschriebenen Burg Richtung Schloßplatz ? wird die Kirche zentraler Punkt des aufstrebenden Ortes und schließlich Ende des 14. Jahrhunderts durch die heutige Kirche ersetzt.
Der zweite Grundstein ist die älteste bekannte schriftliche Erwähnung des Ortes, die uns aber auch nur in Form einer Erwähnung aus den Jahren 916 oder 917 (nach Christus natürlich) vorliegt (d.h. es gibt kein Dokument aus dieser Zeit). Der Priester Berthar aus Verdun berichtet in seiner Geschichte des Bistums Verdun, daß der Abt Paulus von Tholey, später Bischof von Verdun, den Ort "basonis villare" für das Bistum Verdun erworben hat. Leider erfahren wir dabei nicht, von wem Paulus den Ort gekauft hat. Paulus starb um 642 nach Christus, also muß der Kauf vorher geschehen sein. Jetzt ist das Bistum Verdun für St. Wendel zuständig, was weltliche und kirchliche Dinge betrifft.
Um zur Geschichte der Balduinstraße zurückzukehren, können wir jetzt ein paar Jahrhunderte überspringen und halten im 14. Jahrhundert an. St. Wendel heißt jetzt St. Wendel und nicht mehr Bosenweiler. Der heilige Wendalinus hat sich zu einer richtigen Berühmtheit gemausert, der Pilger aus nah und fern anzieht. Das hat zur Folge, daß der Ort stark wächst. Zu den Häusern, die noch vor sechsh undert Jahren hier standen, sind weitere dazugekommen, die sich um die Kirche an zentraler Stelle scharen. Die Balduinstraße ist als solche immer noch nicht zu erkennen. Durch den Kirchenbau ist der Weg zwischen den Häuserfronten in der Mitte gespalten worden, er führt jetzt auf beiden Seiten an der Kirche vorbei (was heute dazu führt, daß wir von der Balduinstraße im Süden und dem Fruchtmarkt im Norden sprechen). Viel Raum wird ihm nicht gegeben, denn zusätzlich eingeengt wird er durch den Friedhof, der um die Kirche herumliegt und wieder ein paar Meter wegnimmt. Nur im oberen Bereich, d.h. östlich der Kirche, kann man von einem Weg sprechen, der gerade noch die Magdalenenkapelle passiert. Doch diese bildet schon das obere Ende des Ortes.
Das Jahr 1388 ist ein wichtiges Datum: die Einwohner des Ortes fragen beim Bischof in Trier an, und der gibt die Erlaubnis zum Bau einer Stadtmauer. Geld stellt er keines zur Verfügung, aber als erfahrener Politiker weiß er, wie man zu Geld kommt: Er führt das sog. "Ungeld" ein: Der getrunkene Wein wird besteuert, und davon wird die Stadtmauer bezahlt. Ihren genauen Verlauf kennen wir nicht, können ihn aber anhand der heute im Luftbild erkennbaren Linien erahnen. Danach sieht der alte Bering wie eine Art Regentropfen aus, dessen Spitze in Höhe der heutigen Marienstraße beginnt, nach Norden entlang der Josefstraße nach Westen führt, die Domgalerie mitten durchschneidet, die Luisenstraße überquert und auf der anderen Seite durch die kleine Gasse Richtung Schloßplatz führt. Diesen erreicht die Mauer aber nicht, sondern trifft unterhalb des Colbus-Hauses auf die Burg, die eine eigene Mauer besitzt. Diese führt von hier aus den Hang hinunter bis kurz vor den Kugelbrunnen, wendet sich durch das Mia-Münster-Haus und oberhalb des Pissoirs vorbei durch Richtung Bahnhofstraße ? den Schloßplatz miteinschließend ? und dreht nach Osten ein. Der Urgroßvater des Mannes, der die Idee hatte, das Gebäude zu errichten, das heute das Rathaus 1 ist, wird erst in 300 Jahren geboren werden, also können wir dieses bei unserer "Planung" völlig außen vor lassen. Am Hang zwischen Balduinstraße und Wendalinusstraße führen wir unsere Mauer bis oberhalb der Magdalenenkapelle und stoßen wieder auf unseren Ausgangspunkt. Hier liegt der einzige offizielle Zugang zur Stadt, das spätere "obere Tor". Bis hierhin haben wir etwa 680 Meter zurückgelegt, die Fläche beträgt etwa 18.000 Quadratmeter (wovon 6300 Quadratmeter für die Burg und 900 für den Schloßplatz abzuziehen sind, denn beide durften von "normal Sterblichen" nicht betreten werden).
Damit hat die Balduinstraße ihre erste Form erhalten, ihren Namen allerdings noch lange nicht. Überhaupt sind uns aus dieser Zeit meines Wissens keine Straßennamen im innerstädtischen Bereich überliefert. Was wir auch nicht wissen, ist, wann St. Wendel und damit seine Mauer erweitert wird. Irgendwann muß der Ort jedoch aus allen Nähten geplatzt sein. Die logische Folge ist, daß man Ort und Mauer ausdehnt. Und da der Süden für eine Erweiterung nicht in Frage kommt (unterhalb der Mauer liegt das sumpfige Bosenbachtal), bleiben nur die drei anderen Richtungen übrig. Das obere Tor wandert um etwa 100 Meter nach Osten, und die heutige Hospitalstraße, die vorher um die Mauer herum zum oberen Tor führte, liegt jetzt innerhalb des Mauerrings. Im Westen reicht die Mauer bis hinunter zu der Position, an der vermutlich Kelsweiler lag, und nimmt diesen Weiler mit ins Stadtgebiet auf. Ein zweiter Zugang entsteht, das untere Tor, dort, wo heute Brühl-, Kelsweiler- und Luisenstraße zusammentreffen. In weitem Bogen wird die Stadtmauer bis an die Burgmauer geführt, die sie etwa in Höhe des heutigen Kugelbrunnens trifft. Mit etwa 1050 Metern Länge ist die neue Mauer fast doppelt so lang wie die bisherige, die umschlossene Fläche (bereits um Burg und Schloßplatz vermindert) umfaßt mit 60.000 Quadratmetern fast das Dreifache der bisherigen.
Die Balduinstraße bleibt in dieser Länge von 240 Metern bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts bestehen. Wir wissen nicht, wann das obere Tor beseitigt wird, aber das muß schon vor 1800 geschehen sein, denn auf einer Karte aus dieser Zeit wird die "Oberst Pfort" zwar noch bezeichnet, aber nicht mehr als Tor eingetragen. Nach 1814 beginnt die Ausdehnung der Stadt auch nach Osten in Richtung Bosenberg, so daß die Balduinstraße schließlich ihre heutige Länge von gut 420 Metern erreicht.
Entlang dieser Strecke finden sich beidseits der Straße sechzig Anwesen mit den Hausnummern 1 bis 86, deren Geschichte ? nicht unbedingt von allen, aber doch von einigen ? noch zu erzählen sein wird.