Opa Wendelin und seine Ziegen
Das sind Opa Wendelin Langendörfer und seine Ehefrau Anna Wagner aus Breiten. Sie sind die Eltern von Angelika Langendörfer und Karl Josef Kloos aus Kirnsulzbach und die Großeltern von Günter Kloos, der über 50 Jahre in der Schweiz lebte.
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In 28 Geschichten und Geschichtchen hat er sich an seine Kindheit im St. Wendeler Ortsteil Breiten erinnert.
Die Geschichten sind mal lustig und humorvoll, mal besinnlich und immer dann sehr ernst, wenn er sich an den Zweiten Weltkrieg erinnert, z.B. die Gefangenen aus dem Konzentrationslager Hinzert.
von Günter Kloos
Albina Knop stammte aus Geisfeld bei Hermeskeil (sie heißt heute Albina Heib und wohnt in Hermeskeil.). Da sie die Woche über in St. Wendel die Handelsschule besuchte, wohnte sie bei uns am Gudesberg. In Geisfeld wohnte sie im damals allerersten Hause am Ortseingang, unmittelbar neben dem Fußballplatz. Einige Male waren meine Mutter und ich dort zu Besuch, wobei wir die Strecke Hermeskeil-Geisfeld hin und zurück zu Fuß gingen, einmal sogar von Geisfeld bis Nonnweiler. Hinter Hermeskeil bog von der Hauptstraße der Weg links nach Geisfeld ab. Einige Kilometer ging es durch einen großen, dichten Wald. Unheimlich, da die Bäume so hoch und dicht standen, daß man fast keinen Himmel sah. Dieser Naturweg war teilweise durch Fuhrwerke der Bauern ziemlich ausgefahren. Ein einzelnes einsames Haus war das einzige zwischen Hermeskeil und Geisfeld. Es stand (oder steht noch) an der Weggabelung, welche rechts nach Geisfeld führte. Dort hatten wir eines Tages ein schreckliches Erlebnis.
Mama und ich kommen aus Geisfeld. Als wir bei besagtem Hause um die Ecke biegen, sehen wir etwas Unfaßbares. Aus Richtung Hermeskeil kommt uns eine Gruppe Leute entgegen. Nein, es ist keine Gruppe. Es sind Gestalten aus einer anderen Welt. Erbärmlich sehen sie aus in ihren gestreiften Sträflingskleidern. Verängstigt und ausgemergelt trauen sie sich nicht, uns anzuschauen. Es sind ungefähr 20 lebende Wracks, die sich an uns vorbeischleppen. Ringsum alle paar Meter werden sie von schwer bewaffneten deutschen Soldaten eskortiert.
Da der Weg sehr schmal ist, müssen wir auf der Seite stehen, um diese armen Kreaturen passieren zu lassen. Mama will im Bruchteil einer Sekunde einem Häftling ein Stück Brot zu stecken. Dies hat sehr fatale Folgen. Es geht alles so schnell, nie werde ich es vergessen können. Der Häftling kriegt das Brot im Vorbeigehen nicht zu fassen. Es fällt zu Boden. Er und seine Leidensgenossen bückten sich, alle wollten gleichzeitig das Stück Brot. Hektik entsteht.
Die Soldaten zielen mit ihren Gewehren auf die Häftlinge. Ein Soldat schlägt einem Häftling das eben aufgehobene schmutzige Stück Brot aus der Hand. Mit dem Gewehrkolben prügelt er dann brutal auf den Wehrlosen ein. Dessen Schreie höre ich heute noch. Mit seinen schweren Stiefeln zertrampelt der Soldat das Stück Brot im Waldboden.
Ein anderer Soldat hält meiner Mutter sein Gewehr vor die Stirn. Ein anderer zielt auf mich. Fürchtet er sich vor einem Sechsjährigen?
Der Soldat brüllt meine Mutter an: "Wenn Sie sowas wieder machen, können Sie hier mit marschieren." Die Kreaturen gehen weiter, werden kleiner, verschwinden langsam im dichten Wald. Auf dem Boden liegen von einem satten Soldaten zertrampelte Brotkrumen. Zurück bleibt auch eine zitternde und fassungslos weinende Frau mit ihrem verängstigten Bub. Der Bub bin ich. Damals - vor 56 Jahren bei dem einsamen Haus im großen Wald zwischen Hermeskeil und Geisfeld.
Als Mama und ich weitergehen, ist es wieder ruhig und friedlich im Wald. Die Häftlinge und ihre Schergen sind verschwunden. Der Wald hat sie verschluckt. Ich sah sie nie mehr, aber vergessen habe ich sie nie. Bis heute nicht.
Als dann endlich der Krieg vorbei war, herrschte in den Tagen "danach" teilweise ein ungeregeltes Chaos. Und so gelangten wir auf der Suche nach Eßbarem (als Städter hatten wir es schwerer als die Landbevölkerung) wieder nach Geisfeld. Auf dem Waldweg sprang ich voraus. An einem dicken Baum lag ein komisches "Etwas" auf dem Boden und ein Plakat hing an dem Baum. Lesen konnte ich ja noch nicht, stellte mich aber aus Neugier auf dieses komische "Etwas", um das Plakat näher zu sehen. Mama war inzwischen auch näher gekommen. "Günter, bleib genau so stehen und beweg Dich nicht", rief sie mir zu. Dann griff sie mir unter beide Arme, hob mich hoch und stellte mich behutsam auf den Waldboden. Auf dem Plakat standen zwei Worte: "Vorsicht Mine", und ich hatte mich auf die Mine gestellt.
Warum ich damals keine Fahrkarte "Himmel einfach" löste, weiß ich nicht. Auf alle Fälle hatte ich einen guten Schutzengel. Zeit ihres Lebens erzählte Mama immer wieder bei jeder Gelegenheit: "Ich vergess nie, wie der Bub off der Mien geschtande is und das Plakat aan geguckt hat...".
Anmerkung des Herausgebers: Das einsame Haus war das Forsthaus "Hohe Wurzel" bei Reinsfeld, das aber inzwischen abgerissen wurde. Für die Information danke ich Hans-Jürgen und Marled Mader, Naurath/Wald.