Die Stadtrechtsverleihungen Kaiser Ludwigs des Bayern 1332 und die Anfänge der Stadt St. Wendel
von Wolfgang Laufer
Am 23. August 1332, am selben Tag, an dem er in Nürnberg zwischen Kaiser Ludwig dem Bayern und König Johann von Böhmen, die sich einander entfremdet hatten, ein ?ewiges Freundschaftsbündnis" vermittelte, erhielt Erzbischof Balduin von Trier wegen seiner Verdienste um das Reich in Italien und in Deutschland ? so die Urkunde ? aus der Hand des Kaisers eine umfassende Bestätigung der Privilegien, Freiheiten, Rechte und Besitzungen der trierischen Kirche. Es war dies das erste einer Serie von sogen. Sammelprivilegien für Trier.
Im ersten Teil verlieh der Kaiser einer ganzen Reihe von Orten, darunter auch St. Wendel und Merzig, das Recht der Stadt Frankfurt. Bestätigt wurden sodann namentlich aufgeführte Trierer Besitz- und Pfandrechte, so etwa das Vogteirecht über Kloster Wadgassen, ferner Münz- und Zollrechte, das Befestigungsrecht usw. Umfassend wird der Trierer Besitzstand umschrieben und bestätigt. In diesem Kontext ist die Verleihung der Stadtrechte zu sehen.
Die Liste der begabten Orte ist sehr unterschiedlich zusammengesetzt. Neben der LandeshauptStadt (civitas) stehen Städte (oppida), Dörfer (villae), Täler (valles) und Burgen (castra). Neben den alten Städten Trier und Koblenz stehen eine Reihe kleinerer Städte: Kapellen(-Stolzenfels), Hartenfels, Alken, Manderscheid, Kyllburg, Münster(maifeld), Cochem, Saarburg, (Welsch) billig, Wittlich, Bernkastel, Mayen, Montabaur, (Kaisers)esch. Es erscheinen ferner Dörfer und sogen. Täler, d. h. Orte, die sich in der Rechtsstellung etwas über den bloßen Dörfern erhoben. Neben St. Wendel und Merzig werden in dieser Gruppe genannt Malberg, Klotten, Treis, Zell, Karden, LeutesdOrt und Niederlahnstein. Und schließlich werden aufgeführt Burgen bzw. Burgsiedlungen: Baldenau, Baldeneck, Grimburg, Schmidtburg und Balduinstein. Kaum ein zentraler, für die neue und straffe trierische Landesverwaltung wichtiger Ort fehlt.
Vor allem die Nennung der schon längst existierenden Städte, darunter insbesondere Triers, läßt die Stadtrechtsverleihung in einem besonderen Lichte erscheinen. Trier hatte im Mittelalter fast die Bevölkerungszahl einer Großstadt erreicht und erfreute sich vor allem im 13. Jahrhundert einer weitgehenden Selbständigkeit gegenüber dem erzbischöflichen Stadtherrn; die Stellung war quasi reichsunmittelbar. Selbst Balduin konnte sich die Stadt nicht voll gefügig machen, und im 16. Jahrhundert wagte Trier sogar einen Reichskammergerichtsprozeß wegen seiner behaupteten Reichsstandschaft. Die Stadt mußte sich durch die ?Verleihung" von 1332 ganz gewiß herabgemindert fühlen, dadurch, daß sie sich mit anderen Landstädten und vom Landesherrn abhängigen Orten auf eine Stufe gestellt sah.
Vor diesem Hintergrund wird die Absicht Balduins, die er mit der Erlangung des kaiserlichen Stadtrechtsprivilegs bezweckte, wohl recht deutlich, zumal der Kaiser ausdrücklich anfügte, daß dadurch die bischöflichen Rechte keineswegs geschmälert und der Erzbischof die höhere und mittlere Gerichtsbarkeit behalten solle. Wie die ältere Forschung bereits festgestellt hat, wollte sich Balduin ganz offensichtlich die landesherrliche Oberhoheit über bestehende Städte bestätigen lassen und sich für diejenigen Orte, die entwicklungstähig waren, die ?reichsrechtliche Stadtfreiung" sichern. Ohne seine Einwilligung sollte niemand, selbst nicht der Kaiser, den Städten, Festen und Untertanen des Erzstifts Freiheiten verleihen, wie die Vereinbarungen Balduins mit seinem Großneffen vor dessen Wahl als Karl IV. 1346 zeigen. Mit der Verleihung von 1332 sollten die rechtlichen Voraussetzungen geschaffen werden, das trierische Städtewesen zu vereinheitlichen, bei Gelegenheit auszubauen und der neuen Verwaltungsorganisation anzupassen. Der Hinweis auf das ?Frankfurter Recht", das allgemein bei Verleihungen Ludwigs des Bayern zahlenmäßig überwiegt, ist vor diesem Hintergrund ohne weiterreichende Bedeutung.
Diese ?Städtepolitik" Balduins entspricht ganz seiner sonstigen ?Innenpolitik". Wir kennen ihn nicht nur als bedeutenden Reichstürsten, sondern auch als den eigentlichen Begründer des Trierer Kurstaates. Unermüdlich und erfolgreich hat er daran gearbeitet, alte erzstiftische Rechte wiederzubeleben und durchzusetzen und neue hinzuzuerwerben. Dafür ist nicht zuletzt auch St. Wendel und das St. Wendeler Land ein Beispiel: 1326 erwarb Balduin die Kirkeler Anteile am Dorf St. Wendel, 1328 dann die der Grafen und von Homburg und Saarbrücken. Weitere Erwerbungen im Umkreis folgten. St. Wendel war damit zum Zentrum eines neuen trierischen Außenpostens, vor allem gegenüber Lothringen, geworden (bis in die 2. Hältte des 15. Jahrhunderts gehörte St. Wendel kirchlich zur Diözese Metz!).
Wie die Forschung festgestellt hat, wurde die Stadtrechtsverleihung von 1332 in keinem der vielen Fälle zum eigentlichen Anstoß einer städtischen Entwicklung. Tatsächlich wurde auch keinem der begabten Orte eine Ausfertigung der Urkunde übergeben; sie war eben ein Privileg ausschließlich für den Erzbischof und seine Lande, und deshalb liegt die Urkunde heute (in zwei Exemplaren) mit Recht bei den übrigen kurtrierischen Archivalien im Landeshauptarchiv Koblenz. Wir müssen Abschied nehmen vom Sammelprivileg Balduins als dem konkret faßbaren Beginn auch der St. Wendeler Stadtwerdung. Die Erinnerung an die Urkunde mag aber Anlaß sein, sich der Anfänge St. Wendels als Stadt näher zu vergewissern. Die Jubiläumsteier ist dennoch nicht ganz ohne Berechtigung, denn St. Wendel war damals auf dem Weg zur Stadt.
Erst seit kurzem wissen wir wieder von der Bedeutung der hoch-mittelalterlichen Siedlung als Verduner Stützpunkt im Westrich. 950 trafen sich in Basenvillare König Otto und der westfränkische König Ludwig zu Verhandlungen über lothringische Probleme. Der alte Ortsname wurde im Laufe des 12. Jahrhunderts durch die aufblühende Verehrung des Wendalinus-Grabes verdrängt. Der eigentliche Aufschwung und die Stadtwerdung St. Wendels begann nicht mit dem Sammelprivileg von 1332, sondern ganz offensichtlich mit dem Erwerb St. Wendels durch Erzbischof Balduin. Ohne eine feierliche Stadtrechtsverleihung zeigt der Ort sehr bald viele Züge einer mittelalterlichen Stadt. Der Erzbischof ließ sogleich die Burg neu errichten und festigte so St. Wendels Funktion als Verwaltungssitz. Ebenfalls sehr bald entstand die neue Pfarr- und Wallfahrtskirche, die die Stellung St. Wendels nicht nur als Kunstzentrum, sondern auch als kirchlicher Mittelpunkt unterstreicht. 1388 wurde die Stadt ummauert. Ende des Jahrhunderts waren die Gewerbe so differenziert und zahlreich, daß sich Zünfte bilden konnten, die im 15. Jahrhundert ein Mitspracherecht in der Stadtverwaltung durch die Schöffen erlangten. 1455 entstand die städtische Hospitalstiftung, im selben Jahrhundert auch das Kauf- und Rathaus. Das Stadtsiegel ist erstmals 1487 nachzuweisen (der angebliche Abdruck von 1442 scheidet aus). Ein Wochenmarkt ist zwar erst 1503 belegt, er muß aber bereits früher bestanden haben, denn eine Wallfahrt ohne Markt ist eigentlich nicht denkbar. Im Gegensatz zum ebenfalls 1332 begabten Grimburg lag St. Wendel Anfang des 15. Jahrhunderts allerdings nicht im Bereich des Trierer Regionalmarktes. Im 16. Jahrhundert kamen Jahrmärkte hinzu.
Wie wenig die Urkunde von 1332 zur Städtebildung beitrug, zeigt u. a. das Beispiel von Merzig. Der Ort hob sich durch seine Verkehrslage, seine Funktion als Verwaltungssitz und kirchliches Zentrum zwar von den umliegenden Dörfern ab, wie St. Wendel hatte er einen Wochenmarkt, und fast gleichzeitig mit St. Wendel erhielt er ein bürgerliches Hospital, er blieb aber ohne Mauer und ohne wesentliches Gewerbe. Erst Ende des 18. Jahrhunderts ist Merzig als Stadt faßbar. Daß eine bloße Stadtrechtsurkunde nichts bewirken konnte, wenn nicht Weiteres hinzukam, zeigt schließlich das Beispiel Homburg. Hier hatte die Stadtrechtsverleihung von 1330 ebenfalls durch Kaiser Ludwig den Bayern und bezeichnenderweise ebenfalls an den Landesherrn, in diesem Falle an die Grafen von Homburg, keinerlei Wirkung. Eine städtische Entwicklung setzte erst in der frühen Neuzeit ein.
Wenn wir von ?Stadt" sprechen, müssen wir uns freimachen von einer auf die ?freie Reichsstadt" fixierten Vorstellung. Schon die wenigen genannten Beispiele haben gezeigt, daß die Übergänge zwischen Dorf und Stadt recht fließend sein konnten. St. Wendel gehörte zu jener großen Zahl mittelalterlicher Kleinstädte, die ohne besondere Privilegierung zur Stadt herangewachsen und immer unter einem Stadtherrn verblieben sind. Es muß nochmals wiederholt werden: Nicht die Stadtrechtsverleihung Ludwigs des Bayern im Sammelprivileg für Erzbischof Balduin 1332 ist, wie der St. Wendeler Geschichtsschreiber Müller meinte, zum Ausgangspunkt der Stadtwerdung geworden, sondern St. Wendel ist, wie der ältere St. Wendeler Stadthistoriker Bettingen es ohne Bezug auf die Urkunde von 1332 formulierte, allein durch die tatkräftige Förderung vor allem Erzbischof Balduins bald nach dem Übergang an Kurtrier zur Stadt geworden. Beides liegt aber zeitlich so eng beisammen, daß St. Wendel mit Recht auf eine lange städtische Tradition zurückblicken kann.
Quellen- und Literaturhinweise:
Die lateinische Urkunde von 1332 liegt in zwei Austertigungen im Landeshauptarchiv Koblenz (Abt. 1 A, Nr. 4747/48); sie ist vollständig abgedruckt bei J. N. v. Hontheim, Historia trevirensis diplomatica et pragmatica, Bd. 2, Augsburg und Würzburg 1750, Nr. 642, S. 118 ?122. ?Grundlegend bleibt Emil Schaus, Die Stadtrechtsverleihungen im Sammelprivileg für das Erzstift Trier von 1332, in: Trierer Zeitschrift 6, 1931, S 8 ? 18. Vgl. ferner: F. L. Wagner, Enleitung zu E. Schaus, Stadtrechtsorte und Flecken im Regierungsbezirk Trier und im Landkreis Birkenfeld, Trier 1958, hier S. XV ff.; Geschichtliche Landeskunde des Saarlandes, Bd. 2, hrsg. von K. Hoppstädter und H. W. Herrmann, Saarbrücken 1977, S. 139 f. ? Zur St. Wendeler Geschichte grundlegend Artikel ?St. Wendel" im Städtebuch Rheinland-Pfalz/Saarland, hrsg. von E. Keyser, Stuttgart 1964 (H. K. Schmitt), dazu Einleitung von H. W. Herrmann. ? Zur Person und Politik Balduins vgl. F.-J. Heyen, Balduin von Luxemburg, in: Rheinische Lebensbilder, Bd. 4, DüsseldOrt 1970, S. 23 ? 36; Richard Laufner, Die Ausbildung des Territorialstaats des Kurfürsten von Trier, in: Der deutsche Territorialstaat im 14. Jahrhundert, Sigmaringen 1971, S. 127 ? 147 (Vorträge und Forschungen 14); Geschichtliche Landeskunde (s. o.), S. 135 ff.; W.-R. Berns, Burgenpolitik und Herrschaft des Erzbischofs Balduin von Trier, Sigmaringen 1980 (Vorträge und Forschungen, Sonderband 27); Walter Hannig, Die Erwerbung St. Wendels durch Erzbischof Balduin, in: Heimatbuch des Kreises St. Wendel, 5, 1953/54, S. 70 ? 76.
Wolfgang Laufer
Quelle: St. Wendel 650 Jahre Stadt, St. Wendel, 1982