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St. Wendel im Sonnenglast

Vom Regen der letzten Wochen rein gewaschen, liegt die kleine, schöne Stadt an der Blies im goldenen Schein der Oktobersonne. Es ist inzwischen eine kalte Sonne geworden, die nur noch in den Eckchen wärmt, wo der Wind keinen Zutritt hat. Die starke Kraft des Sommers ist ihrem Licht genommen. Aber es lockte trotzdem den Menschen heraus aus seiner Wohnung, wo er bereits hinter dem Ofen den Lehnstuhl bereitgestellt hatte.

 

Oktobertage können wundervoll sein. Wenn der Himmel blau über dem Land steht, gleichsam mit dem weisen Lächeln eines Alterfahrenen, wenn der Wind die Spinnfäden über die Wiesen und Straßen treibt, "Marienfäden" vom Volksmund genannt, der noch einmal die Natur eine freundliche Einladung an uns sendet, dann kälten uns die Mauern des Hauses an, und wir wandern noch einmal hinaus in den Nachmittag. Junge Mütter haben sich schick gemacht und schieben die kleinen, weiß lackierten Kinderwagen vor sich her, in denen, in glühende, farbenfrohe Wolle gehüllt, strampelnde oder die Umwelt mit ernstem Staunen ansehende Kleine sitzen. Dann tritt der Geschäftsmann von Zeit zu Zeit auf die Straße, um ein bisschen Luft oder Erholung draußen zu schöpfen, von Bekannten sich grüßen zu lassen. Dann sind die Fenster der Büros geöffnet und das klappern der Schreibmaschinen dringt weit hinaus auf die Straßen. Dann ziehen Jungens und Mädels, zu langen Ketten Arm in Arm gehängt, mit künstlicher Herablassung über die Bürgersteige.

 

Die Feldwege sind noch ein wenig schmutzig, aber draußen lässt es sich wunderbar spazieren gehen in der Einsamkeit, eine Mischung von Melancholie und weiser Heiterkeit im Herzen.

 

Einst war St. Wendel ein stilles Städtchen, einem verträumten Märchen gleich. In der Farbenfülle seiner Landschaft schien es ein Leben für sich zu leben. Von Zeit zu Zeit entsandte es einen dampfenden Zug in die andere Welt an der unteren Blies, wo die Maschinen fauchten und die Schlote rauchten. Heute ist es selbst eine beinahe hastig schaffende Arbeiterin geworden. Der Verkehr pulst fast wie in der Großstadt. Lange Autoreihen füllen sich in den Straßen auf. Manch alter St. Wendeler mag nicht leichtfertig werden mit dem neuen Zustand. Aber er ist ein Segen für die Stadt.

 

b--r

 

Vom Wendelsmarkt

St. Wendel, 12. Oktober. Die Verpachtung der Budenplätze usw. für die am 23., 24. und 25. des Monats stattfindende Wendelskirmes fand gestern Nachmittag im Sitzungssaal des Rathauses statt. Zu derselben hatten sich etwa 30 Interessenten eingefunden. Die Kirmes selbst wird in diesem Jahre nicht auf dem Neumarkt abgehalten, da derselbe anderweitig belegt ist, sondern auf dem Sportplatz an der Turnhalle.

 

 

Ladenschluss in Metzgereien

St. Wendel, 12. Oktober. Wie die Metzgerinnung bekannt gibt, sind die Läden ihrer Mitglieder ab morgen (Donnerstag) von 12:30 Uhr bis 2:30 Uhr geschlossen.

 

 

88 Sonderzüge!

90.000 Personen wurden am Sonntag befördert

Zum zweiten Besuch des Führers und Reichskanzlers im deutschen Saargrenzland am vergangenen Sonntag hat auch die Reichsbahn wiederum ihre Zuverlässigkeit und stete Bereitschaft bewiesen. Treu und gewissenhaft haben die Eisenbahner ihre Arbeit getan, haben auf das persönliche große Erlebnis verzichtet, um es dafür den vielen Tausenden zu ermöglichen. Schon am frühen Morgen sind die ersten Sonderzüge eingetroffen, und kurz nach Mitternacht ist der letzte Sonderzug wieder aus Saarbrücken abgerollt, voll mit strahlenden und frohen Menschen.

 

44 in jeder Richtung, also insgesamt 88 Sonderzüge wurden für die Formationen gefahren. Sonderzüge und planmäßige Züge, die zum Teil verstärkt waren, haben zusammen zwischen 80.000 und 90.000 Personen nach der Saargroßstadt gebracht und wieder abbefördert.

 

Sehr erfreulich und darum besonders zu vermerken ist noch, das trotz des geballten Verkehrs kein Unfall zu verzeichnen ist.

 

 

Judenpässe!

Der Polizeipräsident in Saarbrücken teilt mit:

Nach § 1 der Verordnung über Reisepässe vom 5.10.1938 (veröffentlicht im Reichsgesetzblatt eins vom 7.10.1938) habe sämtliche Pässe, die Juden deutscher Staatsangehörigkeit ausgestellt worden sind, mit Wirkung vom 7.10.1938 ihre Gültigkeit verloren. Die Passinhaber jüdischer Rassezugehörigkeit, die im Polizeipräsidialbezirk Saarbrücken wohnen oder sich aufhalten, werden daher aufgefordert, ihre Pässe im Passbüro des Polizeipräsidiums Schlossplatz 2, Zimmer 15, bis spätestens zum 20. (hier endet leider meine Kopie).

 

 

Die verwahrloste Synagoge

St. Wendel, 7. Oktober. Man schreibt uns: In vielen Orten , auch in der Nachbarschaft, ist man dazu übergegangen, die ihrem eigentlichen Zwecke nicht mehr dienenden Synagogen nach Möglichkeit von ihren Eigentümern zu erwerben und sie anderen Zwecken nutzbringend zuzuführen. Die hiesige jüdische Gemeinde, die zur Zeit der Abstimmung noch circa 85-90 Köpfe zählte und wirtschaftlich hier eine ziemlich bedeutende Rolle spielte, ist auf neun Köpfe herabgesunken, ihre Geschäfte und Häuser sämtlich im arischen Besitz übergegangen. Sie kann deshalb ihren Verpflichtungen zur Erhaltung des Gebäudes nicht mehr nachkommen, auch wird schon seit geraumer Zeit kein Gottesdienst mehr darin gehalten. Es würde deshalb dankbar begrüßt werden, wenn die Stadtverwaltung beziehungsweise wenn sie kein Interesse daran hat, andere ernsthafte Liebhaber sich darum bemühen würden, das Gebäude mit dem Grundstück in ihren Besitz zu bringen. Einen schönen Anblick bietet die Synagoge heute nicht mit ihren zerbrochenen Fensterscheiben und dem verwahrlosten Vorgarten.

 

Aus dem St. Wendeler Volksblatt

(Nr. 238 vom 7. Oktober 1938)

 

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