1904 … dafür ist das Loch zu elend
Am 23. März 1904 wurde diese Ansichtskarte mit der Vorderansicht des Wendalinusdoms von St. Wendel nach Dresden versandt.
Der Gruß ging an Herrn Baumeister Emil Carl in Dresden, Schulguthstraße 17 III links.
Da im Gegensatz zu heute die Vorderseite einer Postkarte nur mit postalischen Angaben beschriftet werden durfte, schrieb er seinen Gruß auf die Rückseite in die leere Luft links und rechts der markanten Silhouette unserer Pfarrkirche.
„L. Freund!
Herzlichen Glückwunsch zur bestandenen Baumeisterprüfung. Auf hiesigem Bauamt ist auch ein Dresdener Techniker seit 1½ Jahren engagiert, der ebenfalls dort die Sächs. Baumeisterprüfung abgelegt hat.
Dieses Jahr geht es nach München zum Unions=Kongreß und nach Tyrol als Urlaubstour.
Sonst giebts hier nichts Neues, dafür ist das Loch zu elend. Jager ist hier kürzlich in einer Submission gegen Keden & Schneider unterlegen, er hat sich fast schwarz geärgert.
Herzl. Gruß
Ihr
R. Siegel
23/III.04.“
„R. Siegel“ hieß mit vollem Namen Richard Robert Karl Siegel.
Richard Robert Karl Siegel
* 09. Januar 1867 in Wartha, Kreis Frankenstein, Provinz Schlesien
+ 28.10.1931 in St. Wendel, Marienkrankenhaus
Sohn von Ferdinand Siegel, Bauunternehmer, und seine Ehefrau Anna Seiffert
1893: technischer Eisenbahn-Bureau-Aspirant
1903: technischer Eisenbahnsekretär
1911: techn. Eisenbahn-Obersekretär
1933: Reichsbahnoberingenieur
1.oo 07. August 1893 in Trier
Martha Ida Clara Hensch
* 25.10.1872 in Breslau
Tochter von Carl Hensch und Rosalia Kuballa.
Die Ehe wurde am 27. Januar 1897 vor dem Königliche Landgericht Saarbrücken geschieden.
2.oo 12.10.1903 in St. Wendel
Helene Lithardt
* 15.01.1882 in St. Wendel
+ 27.11.1944 in St. Wendel
Tochter von Peter Lithardt und Maria Gerber.
Eine Tochter aus 2. Ehe:
Erika Helene Dorothea Siegel
* 31. März 1920 in St. Wendel
oo Karl Blankenburg, Unteroffizier
Nach seiner Scheidung 1897 zog Richard Siegel nach Oberstein und von dort am 1. Oktober 1899 nach St. Wendel, wo er zunächst in Luisenstraße 21 wohnte. Wo er und seine zweite Ehefrau Helene Lithardt nach ihrer Heirat 1903 wohnten, ist unbekannt (vielleicht in ihrem Elternhaus im Alten Woog).
Um 1908 - eher ein bißchen früher - begann die Stadtverwaltung, den sog. Schießberg in Flur 11 besiedeln zu lassen. Der Bauunternehmer Vollmann baute etliche Häuser in einer neuen Straße, die aus einem Feldweg hervorging und „Viktoriastraße“ genannt wurde (heute der nördliche Teil der Beethovenstraße in etwa bis zur Cusanusstraße). Am 3. April 1908 schloß er mit der Stadtgemeinde St. Wendel einen Vertrag, auf Flur 11 Nr. 713/69 „für den Bau eines Schulhauses, der auf errichtet wird, bestimmte Arbeiten zu liefern“.
Ein stattliches Wohnhaus wurde in einem Seitenweg errichtet, der zunächst „Cäcilienstraße“ hieß, unter den Nazis in „Hans-Schemm-Straße“ umgetauft wurde und heute „Julius-Bettingen-Straße“ genannt wird. Die Hausnummer war ursprünglich „11“, heute „9“. Vermutlich hat Vollmann es erbaut und im Spätsommer 1908 an das Ehepaar Siegel verkauft. Meine Vermutung, da ich den Kaufvertrag im Notariat St. Wendel bisher nicht gefunden habe. Aber um den Kauf zu finanzieren, nahmen der Eisenbahnsekretär Richard Siegel und seine Ehefrau Helene Lithardt bei der Kreissparkasse St. Wendel im September 1908 ein Darlehen in Höhe von 11.000 Mark auf und gaben als Sicherheit ihren „Hofraum mit Gebäuden“ am Schießberg, Flur 11 Nr. 704/71.
Auf der Luftaufnahme aus den 1960ern sieht man das Haus jenseits des Schulhofes der Nikolaus-Obertreis-Schule. Der weiße Pfeil deutet direkt darauf.
Und so sieht es heute aus - 10. September 2020.
Auf der Haustür hat Siegel seine Initiale hinterlassen.
Nach Siegels Tod im Jahre 1931 wohnte seine Witwe mit ihrer Tochter weiter im Haus bis 1940. Am 5. Juli dieses Jahres verkaufte Helene in eigenem Namen und dem ihrer Tochter Erika Helene Dorothea Siegel, Ehefrau des Unteroffiziers Karl Blankenburg in St. Wendel, das Anwesen „Flur 11 Nr. 704/71, Cäcilienstraße 11, jetzt Hans-Schemm-Straße 9, Wohnhaus mit Hausgarten“ für 21.000 Reichsmark mit Wirkung vom 1. Oktober 1940 an den Malermeister Eduard Angel und seine Ehefrau Luise Liell, die in der Balduinstraße 36 in St. Wendel wohnten. Die Witwe zog in Tholeyer Straße 23. Gestorben ist sie vier Jahre später an Unterleibskrebs im Hospital.
Ihre Tochter Erika wohnte 1958 in der Schorlemer Straße.
So einfach es war, über Richard Siegel und seine Familie etwas herausfinden, so schwer wurde es hinsichtlich der Botschaft auf der Karte.
Das Adreßbuch von 1911 ist meines Wissens das älteste seiner Art in und von St. Wendel. Es beginnt mit ein bißchen Geschichte und Statistik, gibt dann eine Übersicht der Verwaltungsbehörden des Kreises und der Stadt (mit Namen der Mitarbeiter) und listet dann alphabetisch die Namen, Vornamen, Berufe und Anschriften der Haushaltsvorstände der einzelnen Orte des Kreises auf, angefangen mit der Kreisstadt St. Wendel.
Danach arbeiteten nur zwei Männer auf dem Städtischen Bauamt, das sein „Bureau“ im heutigen alten Rathaus am Schloßplatz hatte:
Stadtbaumeister August Krekeler und Stadtbautechniker Otto Großklaus.
Aber Otto Großklaus (* 04.11.1880 in Thambsbrück, Langensalza) kam mit seiner Ehefrau Maria Jens (* 24.04.1880 in St. Peter, Eiderstadt) und seinem Sohn Ernst (* 22.03.1908 in Beetzendorf bei Salzwedel) erst am 1. Februar 1909 nach St. Wende. Sie wohnten erst in Bahnhofstraße 24, dann (1911) in Wingertstraße 1.
Vielleicht hat Siegel ja das Königliche Kreisbauamt gemeint, das 1911 in der Alleestraße 25 (heute Mommstraße) untergebracht war. Dort arbeiteten 1911 der Kreisbaumeister Harz, der Kreistechniker Schmidt sowie die technischen Gehilfen Müller und Emmerich. Dummerweise stehen dort nur die Nachnamen, was bei Harz nicht so schlimm ist: Gemäß der Einwohnerübersicht heißt er Hugo mit Vornamen und wohnt in Bahnhofstraße 11. Der Gehilfe Emmerich heißt Ludwig, ist Bautechniker und wohnt in Bahnhofstraße 24. Schwieriger wird es bei seinem Kollegen Müller; dazu finde ich nur einen Rudolf Müller, der paßt: er war technischer Bürogehilfe und wohnte in der Breitener Straße (das war 1911 die Tholeyer Straße und ab der Einmündung nach Alsfassen-Breiten die St. Annenstraße bis etwa in Höhe der Einmündung der Straße „Am Brunnen“).
Richtig schwer wird es beim „Bautechniker Schmidt“. Unter dem Namen gab es
=> einen Bäcker: Franz Schmidt, Kelsweilerstraße 22
=> einen Oberlehrer und Professor Gustav Schmidt, Schloßstraße 5
=> einen Pensionär: Johann Jakob Schmidt, Breitener Straße 8
=> einen Ackerer: Johann Schmidt senior, Hospitalstraße 33
=> einen Fuhrmann: Johann Schmidt junior, Hospitalstraße 33
=> einen Dachdecker: Josef Schmidt, Grabenstraße 14
=> einen Eisenbahnschlosser: Josef Schmidt, Kelsweilerstraße 5
=> noch einen Eisenbahnschlosser Nikolaus Schmidt, Altenwoogstraße 19
=> einen Eisenbahn=Nachtwächter: Karl Schmidt, Kasinostraße 11
=> einen Bergmann: Peter Schmidt, Breitenerstraße
=> einen Tagelöhner: Peter Schmidt, Hospitalstraße 32
=> einen dritten Eisenbahnschlosser Wendel Schmidt, Kelsweilerstraße 5
und einen Lehrer Wilhelm Schmidt, Schloßplatz 5.
Aber keinen Bautechniker.
Des Rätsels Lösung findet sich bei den Namensvettern mit Doppel-„t“. Danach wohnte der Bautechniker Ulrich Schmitt in Bahnhofstraße 24. Im selben Haus wie der Gehilfe Emmerich und ein paar Jahre später Otto Großklaus. Es war das Hotel von Gastwirt Johann Riotte mit der heute noch sehr anmutigen Eingangsfassade genau gegenüber der heutigen Post in der vorderen Bahnhofstraße (eigentlich die „hintere“, denn die Häuserzählung beginnt am Schloßplatz, nicht am Bahnhof. Nun ja.).
Dort wohnten die Bautechniker-Gehilfen Müller und Schmitt schon um die Jahrhundertwende, so daß es naheliegend ist, daß einer der beiden der Gesuchte ist. Schauen wir mal: Rudolf Müller wurde geboren am 4. Januar 1882 in Frankenberg an der Eder in Nordhessen. Das liegt nicht gerade bei Dresden, dafür aber die Stadt Dippoldiswalde in Sachsen, von dort sind es nur knapp 20 Kilometer bis Dresden. Und dort wurde am 25. Oktober 1879 Ulrich Schmitt geboren, womit er der aussichtsreichste Kandidat für den auf der Postkarte genannten Techniker im Bauamt ist.
Beide - Müller wie Schmitt - sind im Saarland geblieben; irgendwann nach 1919 sind sie allerdings nach Saarbrücken weitergezogen.
Ich habe nicht herausfinden können, worum es sich bei dem Unions=Kongreß handelt. Zwar hat das Stadtarchiv München auf seiner Website eine Zusammenstellung bemerkenswerter, kurioser und alltäglicher Ereignisse des Jahres 1904 in München gepostet, aber darunter findet sich kein Hinweis auf ein solches Event.
[=>www.muenchen.de/rathaus/Stadtverwaltung/Direktorium/Stadtarchiv/Chronik/1904.html]
Bleibt noch die „Submission“. Darunter versteht man in der Wirtschaft entweder die öffentliche Ausschreibung eines zu vergebenden Auftrags oder die Vergabe eines öffentlich ausgeschriebenen Auftrags an denjenigen, der das günstigste Angebot macht.
Der Herr Jager, den sowohl Siegel als auch sein Freund Carl in Dresden kennen, hat also hier ein Angebot abgegeben und ist von der Firma „Keden & Schneider“ über- resp. unterboten worden. „Hier“ mag „St. Wendel“ bedeuten oder auch nicht. Ich lese in Siegels Worten einen unbestimmten Hochmut, eine Art Überlegenheitsgefühl, gegenüber besagtem Jager und daß er der Meinung ist, daß Carl (doch sicher) genauso denkt. Als gönnten beide dem Jager diese Niederlage.
„Keden & Schneider“ läßt sich in den hiesigen, mir zur Verfügung stehenden Unterlagen nicht finden, aber im November 1896 hat ein Mann namens Johann Christian Jager beim Notar Thiel in St. Wendel einen Erbschein beantragt für seinen Onkel, den Schneidermeister Nikolaus Jager, der am 07.11.1896 in Niedaltdorf ledig und ohne Erben gestorben ist. Johann Christian Jager gibt seinen Beruf als „Stations Diätar zu St. Wendel“.
Laut wikipedia war ein Diätar ein Beamter, der nur zeitweise eingestellt war und außerhalb des Etats besoldet wurde. Die Diätare bezogen ihr Gehalt monatlich, selten tageweise. Sie hatten keinen Anspruch auf Wohnungsgeld, Umzugskosten und ähnliche Leistungen. Der Dienstvertrag konnte jederzeit gekündigt werden. Im Königreich Preußen begannen Eisenbahner und Lehrer ihre Laufbahn oft als Diätare.
Jager wurde am 25.12.1863 im lothringischen Bolchen (heute Boulay, Département Moselle) geboren. Seine Eltern waren der Schuhmachermeister Johann Jager und seine Ehefrau Anna Catharina Haan. Er kam zwischen 1891 und 1896 nach St. Wendel, wohnte aber bereits 1901 in Saarbrücken-St. Johann, Mühlenstraße 7. Dort heiratete er am 17. August Lina Maria Pauline Eckardt (* 07.07.1875 in Kilburgshausen, + 14.02.1907 in St. Johann). Möglicherweise wohnte er zwar in Saarbrücken, arbeitete aber in St. Wendel im Bahnhof. Obwohl für die Eisenbahn arbeitend, hatte er wohl etwas mit dem Baugewerbe zu tun, denn bei seiner Hochzeit war ein Bautechniker namens Friedrich Schroer aus St. Johann, 25 Jahre alt, einer der beiden Trauzeugen.
Im gleichen Gebäude wie Richard Siegel, der möglicherweise wegen Herkunft und Karriere auf ihn herabschaute.
Ich mag mich täuschen.
Irgendwie erinnert mich Siegel an den katholischen Pfarrer Theodor Creins (1788-1874) aus St. Wendel. Der wurde 1823 nach St. Wendel versetzt, wohin er nie wollte. In seinen ersten Jahren fragte er immer wieder an, ob man ihm nicht eine andere Stelle geben könnte. Aber er ist sein Leben lang in St. Wendel geblieben und bis heute der Pfarrer mit der längsten Dienstzeit in unserer Pfarrei.
So ähnlich mag es Siegel auch gegangen sein, was ihn wohl zu seinem schon zitierten Satz auf der Postkarte getrieben hat:
„Sonst giebts hier
nichts Neues, dafür
ist das Loch zu
elend.“
Sein Haus kann er nicht gemeint haben.
Ich mag mich täuschen. Das hoffe ich sehr.
St. Wendel, 10. September 2020
Roland Geiger